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Viktor Frankl_____________________________________

Zum Sinn klettern

Am 26. März 2005 wäre Viktor Frankl 100 Jahre alt geworden. Frankl, Holocaust-Überlebender, weltbekannt als Wissenschaftler, Psychologe und Neurologe war auch Zeit seines Lebens begeisterter Bergsteiger und Kletterer. Sein Leben widmete er der Frage nach dem Sinn, dem Logos; die Berge waren ihm in dieser Hinsicht ein Modell und richtungsweisende Lehrmeister. Frankl eröffnete dem Bergsteigen neue geistige Dimensionen.

Am 27. April 1945 rollten amerikanische Panzer durch das bayerische KZ Türkheim. Den Befreiern schleppen sich bis auf die Knochen abgemagerte, kranke, schwache Gestalten entgegen, Menschen, die das Unfassbare überlebt haben. Unter ihnen der 40 Jahre alte Viktor Frankl. Vier Konzentrationslager hat er überlebt, unzählige Mitgefangene, darunter auch seinen eigenen Vater, sterben sehen. Dem nicht genug, wird er zwischen den Trümmern Wiens erfahren, dass auch seine Mutter, sein Bruder, seine Frau und viele seiner Freunde der NS-Vernichtungsmaschinerie zum Opfer gefallen sind. Frankl steht vor dem buchstäblichen Nichts, in der Hand nur die Fragmente eines Buchmanuskripts mit dem Titel "Trotzdem Ja zum Leben sagen".

Bergsteigen, die Erinnerung, wie sich der Fels anfühlt, das war einer der Beweggründe, die Schrecken des KZs zu überstehen.

Der junge FranklSchon als Jugendlicher beginnt Frankl zu klettern: "Dem Klettern war ich bereits 1924 verfallen und habe dann erst nach 60 Jahren - und da war ich immerhin an die 80 - mit dem 3. Schwierigkeitsgrad aufgehört!". Frankl tritt den Naturfreunden bei, dann, nachdem diese 1934 verboten wurden, dem AV Donauland. Auch diese Sektion wird 1938 aufgelöst und aus dem Alpenverein ausgeschlossen, weil sie es ablehnte, den Arierparagraphen in ihre Statuten aufzunehmen. Frankl absolviert die Bergführerprüfung und war so stolz darauf, dass er als eine der wenigen persönlichen Habseligkeiten das Bergführer-Abzeichen vom KZ Theresianstadt bis nach Auschwitz rettete. Dort allerdings muss er auch dieses mitsamt seinem Ehering und seinem Buchmanuskript der SS ausliefern.
Die Hölle der KZs überlebt er mit kompromissloser Lebensbejahung und der Gewissheit, dass das Leben – selbst unter widrigsten Umständen - niemals an Sinn verliert. Aber auch die bloße Erinnerung an die Berge tut das Ihre, Frankl mit Zuversicht zu stärken: "Bergsteigen, die Erinnerung, wie sich der Fels anfühlt, das war einer der Beweggründe, die Schrecken des KZs zu überstehen", so Viktor Frankl. Als er zum ersten Mal nach der Gefangenschaft seine Hand an den Fels legte, sei er glücklich gewesen wie selten zuvor.

Der Berg – Lehrmeister des Lebens

Viktor Frankl, der Sinnsucher und Seelenarzt schlechthin, war wohl der erste, der plausible Beweggründe dafür benannte, weshalb ein Mensch auf einen Berg stieg, um dann wieder herabzulaufen. Frankl kletterte nicht auf den Berg, weil er "bloß da war" (George Mallory) oder um das "Unnütze zu erobern" (Lionel Terray), sondern weil er ihm als "Lehrmeister des Lebens" galt. Frankl hat das zutiefst Menschliche, Sinnhafte und Sinngebende des Bergsteigens in Worte gefasst und auf den allgemeinen Lebenszweck zu übertragen. Mehr noch: Seine Gedanken übers Bergsteigen verband er immer auch mit der Frage nach einem geglückten Leben. So wird die Tatsache, dass das Erreichen eines definierten Ziels wie ein Gipfel Glücksgefühle induziert, zum Fundament seiner Logotherapie: Nimm dir ein Ziel vor, gehe darauf zu, erreiche es und du wirst ein anderer Mensch. Frankl, der sich mit dem Sinn des Lebens gerade in schwierigen, ja scheinbar aussichtslosen Situationen beschäftigte, sprach in seinen Büchern immer wieder von der großen Bedeutung der Herausforderung. Jemand, der eine Herausforderung annimmt, geht seinen Lebensweg anders, als einer, der ziellos vor sich hin lebt. Der Blick auf den Gipfel, die Vision eines sichtbaren Zieles macht Mut, gibt die Richtung vor, setzt Energien frei, eröffnet Sinn – all das verglich er immer wieder mit einem Kletterer, der gerade dann besonders motiviert ist, wenn er in einer Wand eine unerwartet schwierige Steig-Variante findet. Wie er selbst auf dem "Drei-Enzian-Steig" (Rax, Schwierigkeitsgrad II-III), seiner Lieblingsroute, die er gleichsam zur "Selbsttherapie" mehrmals jährlich beging.

Eine weitere Voraussetzung für ein sinnerfülltes Leben war für Frankl neben einem definierten Ziel die Überwindung der Angst.

Muss man sich denn auch alles von sich gefallen lassen? Kann man nicht stärker sein als die Angst?

Die Trotzmacht des Geistes gegen die Angst

Frankl am MalersteigAuf die Frage, wie er selbst zum Klettern gekommen sei, antwortete Frankl: "Offen gesagt, die Angst davor." Diese Angst vor der Höhe, dem Abgrund, dem falschen Griff wirkte für den bekannten Neurologen und Psychiater geradezu als Würze des Lebens: "Muss man sich denn auch alles von sich gefallen lassen? Kann man nicht stärker sein als die Angst? Und so habe ich denn auch mich, als ich mich vor dem Klettern fürchtete, gefragt: Wer ist stärker, ich oder der Schweinehund in mir? Ich kann ihm ja auch trotzen. Es gibt doch etwas im Menschen ... die Trotzmacht des Geistes gegenüber Ängsten und Schwächen der Seele." Diese "Trotzmacht des Geistes" war für den Professor und geprüften Bergführer die wichtigste Voraussetzung beim Bergsteigen: Der Geist müsse den Ängsten und Schwächen der eigenen Seele widerstehen, damit der Mensch an die Grenzen des ihm Möglichen gelangen könne. In der Kletterei, im gefahrvollen Balancieren über dem Abgrund, zwischen Sein und Nichtsein wiederum sah er eine heilsame Übung, die "Trotzmacht des Geistes" zu stärken, um auch gegen die Alltagsängste gewappnet zu sein. Der Umgang mit der Angst lässt sich modellhaft also durchaus am Felsen üben. Dementsprechend gibt es beim Klettern für Frankl nicht die Rivalität mit einem anderen Konkurrenten, sondern nur die Rivalität mit sich selbst. "Der Alpinist konkurriert und rivalisiert nur mit einem, und das ist er selbst. Er verlangt etwas von sich, er fordert etwas von sich, eine Leistung - womöglich -, aber auch eine Verzicht-Leistung - wenn nötig, einem krankmachenden und einem gesund erhaltenden Stress, und er steht nicht an, den letzteren geradezu als "the salt of life", das Salz des Lebens, und ein andermal als "the spice of life", die Würze des Lebens, zu bezeichnen." Frankl erteilt also dem Wettkampf, dem Höher, Schneller, Gewagter etc. eine klare Absage. Der Kletterer sollte es nicht mit anderen aufnehmen, sondern einzig mit sich selbst.

Der Alpinist konkurriert und rivalisiert nur mit einem, und das ist er selbst.

Frankls Botschaft auf das Alltagsleben übertragen: Setze der Angst die Trotzmacht des Geistes entgegen, bejahe das Leben, egal, woran du leidest und wovor du Angst hast. Seine Therapie am Sinn macht dem Patienten klar: Du selbst hast alles in dir, um dein Leben sinnvoll zu und schön zu gestalten. Wenn nichts mehr änderbar ist – dein Selbst ist noch änderbar.
Selbst die Angst vor dem Tod war für Frankl nie ein Thema: Auf die Frage, wie er damit umgehe, antwortet er: "Wer im Großen und Ganzen das Seine getan hat, fürchtet den Tod nicht. Nur wer falsch gelebt hat, sieht im Tod irrtümlich die gerechte Strafe, der man nicht entgehen kann. Man soll so leben, dass man auf Erden mit dem Tod gut Freund wird."
Frankl lernt seine Höhenangst auf nicht leichten Routen zu bezwingen und erwirbt noch mit 70 Jahren den Flugschein.

Die Rax hat auf mich persönlich immer schon eine Faszination ausgeübt,

"Lebensberg" Rax

Frankl war ein Mensch, der vor allem aus dem Geist heraus lebte, aber auch kräftig zupacken konnte. Entsprechend seiner Liebe für die Höhen des Geistes war er erfüllt von der Liebe zu den Höhen der Berge und Felsen. Auf der Rax bei Wien, speziell auf der klettertechnisch anspruchsvollen Preiner Wand, fand er jenes Modell, an dem seine Tätigkeit als Therapeut, aber auch sein Verständnis als Mensch austesten, verinnerlichen konnte.
Die RaxDie Rax war ihm in erster Linie ein Refugium, ein meditativer Fluchtpunkt, ja, sein "Lebensberg", wie er seine Rax einmal genannt hat: "Die Rax hat auf mich persönlich immer schon eine Faszination ausgeübt, es ist so, wenn ich auf die Rax komme und wenn ich übers Plateau gehe, dass dies die einzige Zeit in meinem Leben ist, in der ich immer wieder, ich möchte sagen, meditiert habe." Der Berg bietet ihm, dem Stadtmenschen, einen Denkraum, eine Inspirationsstube, aus der er seine Kraft, seine Ideen und seinen unbändigen Lebenswillen schöpfen konnte: "In den Bergen bekommen die Gedanken ihren freien Lauf, und es gibt eigentlich keine größere, wesentliche Entscheidung in meinem Leben, beruflicher und privater Natur, die ich nicht dort getroffen hätte. Und so wandere ich übers Plateau im Sinn der vita contemplativa, also des Meditierens, des beschaulichen Lebens", bekennt Viktor Frankl. Vor allen wichtigen Entscheidungen bricht er vom Knappenhof in Edlach, seinem ganz persönlichen "Basislager", auf die Rax auf, um ebendort auch die meisten Einfälle seiner zahlreichen Publikationen entstehen zu lassen. So gesehen war er ein Vorläufer jener heutigen Genusswanderer und Nordic-Walker, die nicht mehr auf die Berge gehen, um sich mit anderen in Bestzeiten zu duellieren, sondern um zu sich selbst zu kommen.

In den Bergen bekommen die Gedanken ihren freien Lauf.

Frankl war aber nicht nur ein nach innen gerichteter, kontemplativer Geistmensch, sondern auch ein aktiver, zupackender Tatmensch. Seine typische Art als Therapeut war es, nicht lange zu "fackeln", sondern tätig einzugreifen, mutig auf die Herausforderung, den Frankl in der PreinerwandPatienten, zuzugehen und die Befindlichkeiten seines Gegenübers blitzschnell zu erg r e i f e n. All diese Eigenschaften übt er als Kletterer im Fels der Preiner Wand: "Wenn ich bei der Preiner Wand angekommen bin, beginnt die vita aktiva, das tätige Leben, das zugreifende, das anpackende – buchstäblich den Fels 'anpackende' – Leben."
Folgende Begebenheit unterstreicht, in welcher Weise Frankl den Fels "angepackt" hat: Als er einmal am Seil eines Bergführers und Extrembergsteigers die Preiner Wand durchkletterte, sagte jener zu ihm: "Sind Sie mir nicht böse, Herr Professor, wenn ich Ihnen so zuschaue, Sie haben überhaupt keine Kraft mehr. Aber wissen Sie, wie Sie das wettmachen durch raffinierte Klettertechnik, ich muss schon sagen, von Ihnen kann man klettern lernen." Tatsächlich kletterte Frankl sehr ruhig und bedacht. Hatte er einmal einen Griff gefasst, blieb er dabei und ließ ihn nicht mehr los. Mit der Zeit entwickelte sich der Harvard-Professor zum guten Kletterer, der auch schwierige Touren wie die Dachstein-Südwand oder das Totenkirchl im Wilden Kaiser bewältigte. Zu seinen Kletterpartnern zählten u.a. der Nacherschließer der Raxwände, Rudolf Reif, aber auch Peter Aschenbrenner und Manfred Innerkofler, mit dem er die Große Zinne und den Luis Trenker-Kamin am 2. Sella-Turm durchstieg.
Nicht umsonst wurden zwei Steige in den Wiener Hausbergen nach Frankl benannt – einer im Bereich der Vormäuer der Rax, der andere, die "Prof. Viktor Frankl-Kante", am Peilstein im Bereich der Luckerten Wand.

Genau darin sehe ich die Funktion, um nicht zu sagen die Mission, des Sports im allgemeinen und des Alpinismus im besonderen: sie sind die moderne, die säkulare Form der Askese.

Berge - säkulare Inseln der Askese

In einem Vortrag (1988) anlässlich der Feier "125 Jahre Österreichischer Alpenverein" setzt er dem "Sinnlosigkeitsgefühl" und der auf "totale Bedürfnisbefriedigung abgestellten Konsumgesellschaft" so genannte "Inseln der Askese" entgegen: "Weltweit leiden die Menschen, insbesondere junge Menschen, unter einem Sinnlosigkeitsgefühl. Sie besitzen die Lebens-Mittel, die Mittel zum Leben; aber sie entbehren einen Lebens-Zweck, auf den hin zu leben, weiterzuleben, es sich auch dafürstünde."
Ohne die Ausrichtung auf Ideale könne der Mensch aber nicht überleben. Für Ideale müsse man kämpfen, warten können, es bedürfe dafür der sogenannten "Frustrationstoleranz", die es zu trainieren gelte. Vor allem junge Menschen seien unfähig, "Frustrationen wegzustecken; sie sind unfähig, auf die Erfüllung ihrer Wünsche zu warten; sie sind unfähig, auf etwas, das sie noch nicht haben, zu verzichten oder gar etwas, das sie bereits besitzen, zu opfern. In ihrer Frustrations-Intoleranz sind diese jungen Menschen nicht mehr fähig, abwendbares Leid abzuwenden und unabwendbares Leid auszuhalten", so Viktor Frankl. Eine mögliche Lösung:

"Der biologisch unterforderte Mensch arrangiert sich nun freiwillig, künstlich und absichtlich Notwendigkeiten höherer Art, indem er aus freien Stücken von sich etwas fordert, sich etwas versagt, auf etwas verzichtet. Inmitten des Wohlstands sorgt er für Situationen des Notstands; mitten in einer Überflussgesellschaft beginnt er, sozusagen Inseln der Askese aufzuschütten - und genau darin sehe ich die Funktion, um nicht zu sagen die Mission, des Sports im allgemeinen und des Alpinismus im besonderen: sie sind die moderne, die säkulare Form der Askese."

Indem der Kletterer seine Grenze immer wieder hinausschiebt - wächst er auch über sich selbst hinaus ...

Frankl am MalersteigFrankls säkulare "Inseln der Askese", wie sie z.B. in den Bergen zu finden sind, sollen die Spannung zwischen Stadtzivilisation und Natur, zwischen dauerndem Überfluss und seltenem Mangel überbrücken helfen. Frankl trifft hier genau den Nerv der Zeit und gibt die heute so bestimmende Richtung zum naturnahen, enthobenen, einfachen Leben vor.
Ein Leben aber nicht ohne Herausforderung: Am Beispiel des Kletterns demonstriert Frankl eine mögliche Lebensform: "Im Gegensatz zum, biologisch gesehen, im Schongang lebenden Menschen wählt der Kletterer im Gebirge nicht "den Weg des geringsten Widerstands", sondern zieht es vor, auf einer Klettertour sich die schwierigste Route auszusuchen, der er gerade noch gewachsen ist." Dem Kletterbegeisterten gehe es um die "Grenze des Menschenmöglichen" und darum, diese Grenze auszukundschaften. "Und siehe da: es ergeht ihm dabei so wie mit dem Horizont; denn mit jedem Schritt, den er auf ihn zugeht, weicht der Horizont vor ihm zurück; in dem Maße, in dem er sich ihm nähert, schiebt er ihn auch schon vor sich her; er schiebt ihn immer mehr hinaus - ganz genau so, wie er, etwa in der Geschichte des "extremen" und "freien" Kletterns, die Grenze des Menschenmöglichen hinausgeschoben hat. Indem er diese Grenze aber immer wieder hinausschiebt - wächst er auch über sich selbst hinaus ..."

Heilung und Sinnfindung durch Herausforderung, Angstfreiheit durch Bewusstseinsschärfung, kontemplative Geisträume und Inseln der Askese an den Gefielden der Berge – zum Lebenssinn könnte man laut Viktor Frankl durchaus klettern.
Buchtipp:

Berg und Sinn

Michael Holzer, Klaus Haselböck:

Berg und Sinn – Im Nachstieg von Viktor Frankl

Das Buch zeigt die große Liebe des Begründers der Logotherapie und Existenzanalyse zu den Bergen und zum Klettern – und ist gleichzeitig eine Hommage an einen Alpinisten, der dem Sinn des Kletterns eine Sprache gab ...

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