"Danke,
Muttergöttin der Erde!", murmelt Sherpa Tenzing Norgay, als
er und Edmund Hillary als erste Menschen den Gipfel des Everest betraten.
Ein Jahrhundert Everest. Zeit für eine Rückschau, Zeit aber
auch für einen Blick in die Zukunft des Alpinismus.
Der
Mythos
März
1953: Zwei Marschkolonnen mit 350 Trägern und 13 Tonnen
Ausrüstung bewegen sich durch das Hochland von Nepal dem Everest
zu. 13 britische Bergsteiger unter der Leitung des Himalaya-Kenners
John Hunt haben nur ein Ziel: den
Mythos von der Unbesteigbarkeit des höchsten Berges der Welt zu
widerlegen.
1.
April 2003:
Tashi Tenzing, der Enkel des Erstbesteigers, Peter Habeler, Reinhold
Messner, Wolfgang Nairz, Robert Schauer und Stephen Venables, sie alle
versammeln sich in Wien zu einem Gipfel-Treffen der besonderen
Art, um jenes Ereignisses vor 50 Jahren zu gedenken, das wie kein anderes
Alpingeschichte geschrieben hat.
Die Erstbesteigung des Everest
sei zwar eine "Pionierleistung historischer Dimension gewesen,
die uns immer noch beschäftigt", leitete Nationalratspräsident
Dr. Heinz Fischer die Feierstunde ein, nichtsdestotrotz habe am 29.
Mai 1953 der Everest begonnen, seinen Mythos zu verlieren (Reinhold
Messner).
Hillary und Tenzing Norgay haben zwar ein Ziel erreicht, aber zugleich
den Startschuss gegeben zur kompromisslosen "Eroberung des Unnützen"
(Lionel Terray). Entmythisierung der Berge, "Eroberung" der
letzten bislang unbetretenen Orte und Pole hieß die Devise und
Herausforderung des Ur-Alpinismus.
1856:
Andrew Waugh, Leiter einer britischen Vermessungsexpedition,
entdeckt dass "Peak XV" wahrscheinlich der höchste
Berg der Welt ist. Er rät der Royal Geographical Society, den Berg
nach seinem Vorgänger George Everest zu benennen, der die Vorarbeiten
zu dieser Entdeckung geleistet hat. Die Einheimischen nennen den Berg
"Chomolungma" - "Muttergöttin der Erde".
Die Neuvermessung 1999 ergibt eine Höhe von 8850 m.
Der
Gipfel
17.
April 1953: Die Karawane erreicht das Mount Everest Basislager
in 5400 Metern Höhe unter dem Khumbu-Eisfall. Man sammelt sich,
errichtet Zelte, beginnt den Aufstieg generalstabsmäßig vorzubereiten.
Hunt, ein vorzüglicher Expeditionsleiter, weiß wie alle anderen
um die Wichtigkeit des Unternehmens: Es ist die letzte Chance
der Briten, die Erstbestiegung auf ihre Fahnen schreiben zu können
- Franzosen und Schweizer scharren schon ungeduldig in den Löchern.
Und außerdem: Am 2. Juni wird Elisabeth II zur Königin von
England inthronisiert. Wäre es da nicht die Krönung der Krönung,
ihr - und Großbritannien - den Everest zum Geschenk zu machen?
25.
April 1953: 52 Männer - vorwiegend Sherpas - beginnen
mit dem Lastentransport über den berüchtigten Khumbu-Eisfall,
eine rund 700 m hohe Wand aus Eistürmen, Seracs und tiefen Spalten.
Oberhalb des Eisbruchs öffnet sich das fünf Kilometer lange,
flachere "Tal der Stille", das Gletscherfeld des Western
Cwm (siehe Bild rechts, Georg Lowe 1953). Vor allem die Sherpas
verrichten Schwerstarbeit, schleppen Tonnen von Ausrüstung unter
Lebensgefahr von Lager zu Lager ...
Unter ihnen auch Sherpa Tenzing Norgay, als Junge Hirte einer
Yak-Herde. Seine Mutter deutete häufig auf den Everest und nannte
ihn "Lhochamalung": "Der-Berg-der-so-hoch-ist-dass-kein-Vogel-drüber-fliegen-kann".
Unaufhaltsam wuchs in Tenzing der Traum als erster Sherpa nicht nur
Helfer der "Sahibs" zu sein, sondern eines Tages selbst am
Gipfel des Everest zu stehen. Erfahrungen sammelte er als Träger
für britische und Schweizer Expeditionen. Was ihn so beliebt machte,
meint beim Gipfeltreffen Tashi Tenzing, sei sein gewinnendes, offenes
Lächeln gewesen, das erst 1986 für immer erlischt.
Die
Sherpa sind ein Volk, das urprünglich im Osten Tibets siedelte,
ehe es sich vor etwa 500 Jahren südlich des Everest im Khumbu-Tal
niederließ. Als China 1951 Tibet besetzte und die Handelswege
der Bauern und Hirten abschnitt, sahen die Sherpas in den Berg-Expeditonen
eine willkommene Alternative zu den verlorenen gegangenen Einnahmequellen.
Die Geschichtsschreiber übersehen gerne, dass es die Sherpas waren,
die die schwersten Lasten getragen und den geringsten Ruhm geerntet
haben.
7.
Mai 1953, 6.400 m: John Hunt versammelt alle Bergsteiger
in seinem Zelt, um bekannt zu geben, wer den Gipfel versuchen darf und
wer sich damit begnügen muss, die Route vorzubereiten und den Nachschub
zu besorgen. Charles Evans, 34, und Tom Bourdillon, 28,
stellen jene Gipfeltruppe, die vom Südsattel aus als erste in Richtung
Gipfel starten wird. Sollten sie es nicht schaffen, sieht Hunts Plan
den Aufbruch eines zweiten Gipfelteams vor: Tenzing Norgay und
Edmund Hillary. Hillary, ein 33-jähriger neuseeländischer
Imker und 1,92 m großer Hüne, lässt sich am besten mit
dessen eigenen Worten charakterisieren: "Seit ich als Erster
auf dem Gipfel stand, haben die Medien mich als Helden behandelt. Ich
selbst halte mich für einen Menschen mit durchschnittlichen Fähigkeiten.
Was ich erreicht habe, verdanke ich meiner lebhaften Fantasie und meiner
großen Ausdauer".
Hillary, der konditionsstarke, ehrgeizige Hüne ergänzt sich
mit dem erfahrenen und umsichtigen Tenzing zu einem perfekten Gipfelteam.
Edmund
Hillary führt Sherpas in das Western Cwm. Hinter ihnen der Lhotse.
Foto: George Lowe 1953
Everest
Gipfeltreffen, April 2003:
Hillary sei zweifellos zufällig zur richtigen Zeit mit den richtigen
Wegbegleitern am richtigen Ort gewesen. Der Erstbesteiger hätte
auch Mallory, Evans oder Bruce heißen können, so ein Grundtenor
des Meetings. Reinhold Messner unterstreicht, dass Hillary und
Norgay gleichsam über die Schultern ihrer gescheiterten Wegbereiter
hinweg auf den Gipfel gestiegen seien, sie also ihren Erfolg eigentlich
der Erfolglosigkeit vorangegangener Expeditionen zu verdanken gehabt
hätten. Diese Tatsache sieht auch George Mallory selbst
voraus: "Wir haben den Weg zum Gipfel für jeden geebnet, der
das höchste der Abenteuer wagen möchte", meint er 1921
nach dem ersten gescheiterten Everest-Versuch einer britischen Expedition
in den Himalaya.
1922:
Bei einem weiteren Versuch von Mallory fordert der Everest die
ersten Opfer: Sieben Sherpas werden durch eine Lawine getötet.
Mallory, E.F. Norton und T.H. Sommervell gelangen bis
in eine Höhe von 8169 m, George I. Finch und Geoffrey Bruce schieben
den Höhenrekord anderntags auf 8326 m.
1924:
Im Rahmen einer dritten britischen Expedition steigen George Mallory
und Andrew Irvine am 8. Juni in Richtung Gipfel und kehren nicht
mehr zurück. "Sie sind jene Geister, die in der Phantasie
der Menschheit noch immer gen Gipfel steigen", so Messner fast
80 Jahre später, da bis heute ungewiss ist, ob sie den Gipfel erreicht
haben oder nicht. 1999 wird zwar auf 8170 Metern Höhe die Leiche
Mallorys gefunden, aber keine Gewissheit.
1951:
Eric Shipton findet eine Route vom Westkar über den Südsattel
zum Gipfelgrat.
1952:
Im Rahmen einer Schweizer Expedition gelangt Tensing Norgay mit
dem Genfer Raymond Lambert über den Südsattel in eine
Höhe von etwa 8500 m.
Der
Weg
26.
Mai 1953, Lager VIII, 7900 m:
Als den "kältesten und einsamsten Platz der Welt", bezeichnet
Tenzing Norgay den Südsattel zwischen Everest und Lhotse,
"Todeszone" nennen die Wissenschafler Höhenlagen
über 7500 m. Der Sauerstoffgehalt der Luft ist auf ein Drittel
ihrer normalen Dichte zusammengeschrumpft. Der Organismus baut kontinuierlich
ab, jede Bewegung kostet Kraft, klares Denken ist kaum mehr möglich.
Und noch liegen die härtesten 950 Meter vor den Bergsteigern.
Charles Evens und Tom Bourdillon starten vom Südsattel
zum Gipfel.
Tenzing und Hillary warten etwas tiefer in gespannter
Ruhe auf ihre Stunde. "Unablässig fegte der Sturm von Westen
kommend, heulend und kreischend über uns hinweg, mit solcher Gewalt,
dass die Leinwand unseres Pyramidenzelts knatterte wie Gewehrsalven.
Ich hatte das Gefühl, an meinem Gehirn sei ein Pressluftbohrer
angesetzt", schildert Hillary seine Empfindungen, als er neben
Tensing im Zelt liegt. "Ein Gefühl äußerster
Angst und Einsamkeit überkam mich. Was für einen Sinn hatte
das alles? Man musste doch verrückt sein, um sich etwas anzutun."
Nachdem
1953 der Gipfel erreicht war, bestand die Herausforderung des Bergsteigens
nunmehr darin, neue Routen zu erschließen, bislang als
unbesteigbar geltende Wände und Grate, den Everest von allen Seiten
her zu bewältigen.
1960:
Zwei Chinesen und einem Tibeter gelingt erstmals die Überwindung
des Everest-Nordgrates.
1963:
Die Amerikaner Willi Unsoeld und Tom Hornbein schaffen die erste
Überschreitung des Everest.
1980:
Zwei Japaner bezwingen die Nordwand.
1983:
Ein amerikanisches Team durchsteigt unter Verwendung von Raketenwerfern
und Motorwinden den fast senkrechten Fels der Ostwand.
Heute
führen etwa 15 verschiedene Routen auf den Gipfel.
Der
Stil
28.
Mai 1953: Hillary und Tenzing brechen, unterstützt von
George Lowe und Alf Gregory, von Lager VII (7300 m) zum Südostgrat
auf, um dort Lager IX zu errichten. Am Südsattel kommen
ihnen Evens und Bourdillon entgegen (Bild links: Evans und Bourdillon
erschöpft nach ihrer Rückkehr zum Südsattel). Sie
seien bis auf 8751 m gekommen, auf den Südgipfel, erzählen
sie atemlos, das Ziel zum Greifen nahe, nur mehr 100 Höhenmeter
und 350 Meter Luftlinie vom Hauptgipfel entfernt. Ein defektes Sauerstoffgerät
habe ein Weitergehen verhindert. Bourdillon, der ungeachtet des Risikos
weitersteigen will, wird von Evans zurückgehalten: "Wenn
du weitermachst, Tom", sagte er, "wirst du Jennifer
[Bourdillons Frau, Anm.] nie wiedersehen". Nun lag es an Team
2, Hillary und Tenzing, die letzten Schritte auf den höchsten Punkt
der Erde zu tun.
Als
die meistern Routen begangen, die Grate und Wände sozusagen "entjungfert"
waren, suchten sich die Alpinisten eine neue Herausforderung: die Optimierung
des Stils. Und es waren vor allem Messner und Habeler,
die eine Abkehr von der aufwändigen Belagerung des Berges durch
Hundertschaften von Trägern und Alpinisten forderten und den schnellen,
wendigen und kostengünstigen "alpinen Stil" präferierten.
"Nur der Berg und ich", den Gipfel "by fair means"
- mit fairen Methoden - erreichen, heißt die Maxime der folgenden
Jahre. Es beginnt aber auch die Zeit der mitunter skurril anmutenden
Jagd nach Rekorden.
1975:
Als erste Frau steht die Japanerin Junko Tabei am Gipfel.
1978:
Reinhold Messner und Peter Habeler schaffen die erste Besteigung
im sog. "alpinen Stil": d. h. ohne Sauerstoff, Träger,
mit minimalem Aufwand. "Den einsamen Sieg", nannte Habeler
das Gefühl, "das Unmögliche" geschafft zu haben.
1980:
Erste Winterbesteigung durch ein polnisches Team.
1980:
Messner erreicht den Gipfel allein und ohne Sauerstoff über
die Nordseite. "Als ginge es um die explizite Möglichkeit
umzukommen. Drei Tage lang steige ich gegen das Sterben an", erzählt
er 2003.
1996:
Die wohl reinste Ausprägung des fairen "alpinen"
Stils liefert der Schwede Göran Kropp, der mit dem Fahrrad
aus Schweden bis an den Fuß des Everest strampelt, bis zum Gipfel
steigt und wieder heimradelt.
2000:
Der Slowene Davo Karnicar fährt den Everest erstmals auf Skiern,
der Franzose Marco Siffredi per Snowboard ab (was im Jahr darauf
der Österreicher Stefan Gatt wiederholt), das französische
Ehepaar Roche segelt per Tandem-Paraglider vom Gipfel ins Tal.
Dem beinamputierten
Tom Whittaker gelingt 1998, dem Blinden Erik Weihenmayer 2001 die
Gipfelbesteigung.
Am längsten, nämlich 21 Stunden, verharrt Babu Chhiri
Sherpa 1999 am Gipfel.
Hans Kammerlander schafft den Everest in den schnellsten 16.45
Stunden.
Der 15 Jahre junge Temba Tseri steht 2001 als jüngster, ein
Jahr später der 66-jährige Italiener Mario Curnis als der älteste
Mensch auf 8850 m.
12 Mal schafft es Apa Sherpa bis ganz hinauf, so oft wie keiner. |