Ein Sechs-Tage-Trek führt durch die erfrischend stille Berglandschaft der Tuxer Alpen – eine Traumtour für Schwärmer und Romantiker, die sich den besonderen "Tuxer Way of Walk" aneignen wollen.
Sie ist auch zwischen Mensch und Landschaft möglich: Liebe auf den ersten Blick. Was die anmutigen und stillen Tuxer Berge angeht, werden sich solche, die sie offenen Herzens durchwandern, dieser Liebe kaum entziehen können. Zwischen uns und den Tuxern jedenfalls hat es sofort gefunkt. Vor allem meine Wegbegleiterin verfiel der Lieblichkeit der Landschaft auf Anhieb. Denn der Inntåler Höhenweg passt perfekt zu ihr, der Genießerin, der Langsamgeherin, der Blumen- und Landschaftsliebhaberin, der Schwärmerin und Romantikerin und absolutem Neuling auf dem Gebiet des mehrtägigen Hüttenwanderns. Und auch sie passte, nebenbei gesagt, perfekt in diese Lebenslandschaft mit ihren kuscheligen Winkeln, ihren verborgenen Geheimnissen, ihrer charmanten Heiterkeit und reizvollen Vielfalt.
Hoch überm Inntal
Der "Inntåler" zieht fünf bis sechs Tage lang in einer Höhe zwischen 1.800 und 2.800 m durch die einsame Bel-Etage der Tuxer vom Patscherkofel über den Glungezer und den Rastkogel zum Kellerjoch – oder umgekehrt. Wir wählten umgekehrt – also von Nordost nach Südwest, da dann die langen und vergleichsweise schweren Etappen erst am Ende auf uns warteten, weil wir die besten Panoramen vor uns hatten und wir die wenigen Klettermeter im Aufstieg bewältigen konnten und nicht im schwierigen Abstieg. 16 Tuxer Gipfel (oder mehr, je nachdem, was man unter Gipfel versteht), 8 Joche, 5 Hütten und jede Menge wundervoller Naturkostbarkeiten liegen am Weg – so die Eckdaten dieser ganz besonderen Himmelsbrücke, wo man vor allem eines lernt: den bedächtigen, schlendernden, auskostenden "Tuxer Way of Walk".
Liebe im Nirgendwoland
Als wir mit der Kellerjochbahn zur Bergstation hochschaukeln, kommt es uns vor, als schwebten wir mitten in die Loge eines Theatersaals, wo uns allerdings ein Vorhang aus Regenwolken den Blick auf die Bühne verwehrt. Und wie im Theater kribbelt es im Magen vor Neugierde und Spannung, was sich denn hinter dem Vorhang verbergen könnte, was da auf der Bühne zu sehen sein würde, welches Schauspiel uns denn erwarte … Als wir von der Bergstation am Kellerjochweg bergauf steigen, nieselt es, schieben sich Wolkenwalzen über graue Bergschemen, zerreißen und bleiben als Wattebäusche zwischen den Bergen hängen. Manchmal umhüllt uns selbst eine Dunstwand, sodass die mit ihr verschwimmende Umgebung wie ein leeres, monochromes "Nirgendwoland" aussieht, wie meine Wegbegleiterin feststellt. Nirgendwoland … Keine Menschenseele ringsum, Stille, Unbewegtheit, kein Oben, kein Unten, nichts – wir warten auf den Beginn einer imposanten Vorstellung.
Die erste Tuxer Szene dann in der Kellerjochhütte, eine kleine Liebesgeschichte im Nirgendwoland. Die ersten Protagonisten: Günther und Veronika, das Wirtspaar. "Vor 19 Jahren haben wir uns hier getroffen und auf Anhieb ineinander und in die Hütte verliebt", erzählen sie uns. Dieses "Kleinod", wie sie die Hütte nennen, führen sie nun seit neun Jahren und freuen sich jeden Tag aufs Neue, hier zu sein. Das spürt man in der einst beliebtesten Hütte Tirols, wo alles mit Liebe und Freude getan wird.
Vorstellungsbeginn
Als wir am nächsten Morgen von der Hütte zur kleinen Kapelle am Kellerjoch hinaufsteigen, verwehren uns tief liegende Wolken noch immer den Ausblick aufs Inntal und Karwendelgebirge. Der Vorhang bleibt also geschlossen, der Vorstellungsbeginn lässt auf sich warten. Ungeduld. Drei Schafe bewachen teilnahmslos die um 1500 erstmals errichtete Kapelle, die allzu oft Blitz und Sturm zum Opfer fiel. Zurück bei der Hütte zweigen wir Richtung Süden auf den Adlerweg oder Weg 316 ab und nähern uns dem Kuhmesser. Auf dem Weg zum Loassattel hinunter passiert‘s: Der Vorhang öffnet sich, langsam schieben sich die Wolken beiseite, aus dem Grau wird Farbe, aus den Schemen wird Kontur, aus dem Nirgendwoland wird Allesland: Gipfel um Gipfel, Berg um Berg kommen zum Vorschein, bis sich die ganze, traumhafte Kulisse der Tuxer vor uns ausbreitet. Welch ein Auftakt! Ja, die Natur ist sich selbst der beste Regisseur und vermag sich wundervoll und jeden Tag aufs Neue und anders zu inszenieren. Der Weg führt nun den Fuß des Sonntagsköpfels entlang und über Hochfügen hinweg zum Pfundsalm-Niederleger und weiter zum Mittelleger. Die einzige Bergwertung des Tages verläuft über einen steilen Wiesenhang zum Sidanjoch hinauf, wo links schon die Rastkogelhütte zu sehen ist. Noch aber hält uns das Besondere am Weg auf: kleine Wasseraugen mit Molchen und anderem Wassergetier. Solche Tümpel sind kleine Nebenschauplätze, wo recht quirlige Akrobaten einen besonderen Zirkus veranstalten. Zuguterletzt setzt die Abendsonne noch zu einem imposanten Himmelsfeuerwerk an und begleitet uns auf den letzten Metern zur Hütte, die wir um 18 Uhr erreichen. Wir werden auch die nächsten Hütten immer um 18 Uhr erreichen, egal, wie lange die Gehzeiten bemessen sind. Denn was wir nicht gehen, das rasten, bestaunen, genießen und verharren wir im Augenblick – das ist der wahre Tuxer Way of Walk!
Märchenwege
Märchenwege an diesem Tag! Bevor wir überhaupt richtig in Schwung kommen, halten uns wieder diese Wasseraugen im Gewies des Sidanjochs auf und die Blumen und die Bergkulisse und ... Eine Stunde brauchen wir für die ersten Gehminuten und das wird den ganzen Tag so weitergehen. Vor allem die schwärmerische Wegbegleiterin kommt nicht vom Fleck, eine seltene Blume da, ein nettes Plätzchen dort – sie und die Landschaft lehren mich, mein Tempo gehörig zu verlangsamen und die schönen Augenblicke mit offenen Augen auszukosten.
Schließlich folgen wir Weg 318 unterm Rosskopf hindurch in eine Bucht der Sidanalm, wo kleine Bäche mehrere Seen speisen. Blumenpölster voller Enziane und Wollgras, kleine Grasinseln, zu denen Steinbrücken aus Kindeshand führen, ringsum die felsigen Abhänge von Rastkogel und Grindlspitze, von denen glitzernde Rinnsale herabsprudeln und sich in die Seen wellen – wir wollen nicht mehr fort aus diesem "Märchenland", wie es meine Wegbegleiterin benennt.
Wir müssen aber. Der Weg strebt nun steiler dem Gipfel des Rastkogels entgegen, auch über den müssen wir, ob wir wollen oder nicht. Auf steilem, steinigem Weg, der den Tuxer Schlenderschritt etwas stört, hanteln wir uns mühsam hoch bis zum "aussichtsreichen Paradegipfel" mit "herrlicher Rundumsicht", wie es heißt. "Ich schenk‘ ihn dir, den Paradegipfel", sagt meine Wegbegleiterin und steigt auf der anderen Seite schon wieder ab. Mich wundert‘s, wie wenig gipfelgeil man sein kann, und steige ihr nach. Die Kamm-Promenade hinüber zum Nurpens- und Nafingjoch mit ihrer Rundherum-Sicht gehört aber wieder in die Rubrik "märchenhaft". Hier darf wieder geschlendert, getrödelt, gelustwandert werden. Ein Foto da, ein "Jö-Schau’!" dort, ein "Setz’-Di" auf diesem Stein, ein "Leg-Mich-Hin" auf jenem hübschen Wieserl. Vom Nafingjoch unterhalb der Halslspitze geht’s – das Karwendel stets vor uns – über die Nafingalm nach Norden zur ebenfalls ausgezeichnet geführten Weidener Hütte hinunter. Ankunft und Ende der Vorstellung: 18 Uhr, wie gehabt.
Grüne Berge
Ein Tagesauftakt wie aus dem Bilderbuch: Durch uralten, nach Harz riechenden Zirbenwald queren wir auf dem Zentralalpenweg 02 den Nordrücken der Hubertusspitze zur Grafennsalm hinunter, wo vorerst leider Schluss mit lustig ist. "Steil bergauf", nennt sich die Szene. Aber es wären nicht die Tuxer, wenn anstrengende Passagen nicht durch unterhaltsame Kleinkunst gewürzt wären: prächtige Flora zu unseren Füßen, Rinnsale, die über den Hang heruntergurgeln, und romantische Rastplätze in kleinen, von Bächen durchzogenen Felsbuchten. Zehn Minuten gehen, zehn Minuten Theater-Schauen, so das Programm meiner Wegbegleiterin, die genau weiß, wie dehnbar eine Minute ist, und es auch nach drei Tagen noch immer nicht fertig bringt, 10 Schritte am Stück zu marschieren. Ja, es ist eine Lebenslandschaft hier in den Tuxern, in der das Glück findet, wer sich ihr öffnet, und wo lustwandelt, wer mit Lust wandert.
Am Krovenzjoch (oder Grafennsjoch) erreichen wir den höchsten Punkt des Tages, von wo wir abwärts schlendern, lange zwar, aber abwechslungsreich, tuxerlike eben. Unterhalb von Eiskarspitze und Torspitze führt der 02er in die Wattentaler Lizum hinunter, einen Militär- und beliebten Alpinübungsplatz. Die letzten Meter folgen wir dem sog. "Zirmweg", wo die Zirben selbst aus Felsen herauszuwachsen scheinen. Ankunft bei der Lizumer Hütte: 18 Uhr, logisch. Noch kein Ende der Vorstellung aber, denn die Hütte liegt wunderschön an einem See, den zu umrunden eine kleine Zugabe bedeutet.
Tux und Tollerei
Vorweg: Die 15 km lange "Glungezer & Geier-Route" über die sog. "seven Tuxer summits" hat uns etwas die Laune verdorben. Der Weg anfangs allerdings noch mehr "Tux" als "Tollerei": Durch den farbenprächtigen "Almrosengürtel" steigen wir durch das Watterntal hinauf, wo uns ein vergnügtes Murmeltier-Volk erwartet. Von den gar nicht scheuen Wachhabenden werden wir nur selten ausgepfiffen, und wie es sich in einem Theater gehört, liefern uns die jüngsten Murmelis eine köstliche Exklusivvorstellung in den Disziplinen "Felsklettern" und "Männchen-Machen". Weiter! Auch der Weg zum Klammjoch mit seinem Klammsee ist noch durchaus annehmbar. Ein hübsches Fleckchen, wo allerdings heute allzu ausbreitendes Rasten verboten ist; die neun (!) veranschlagten Netto-Gehstunden lassen leider keine ausgiebigen Pausen zu. Protest von Seiten der Rastkünstlerin. Sorry, aber Trödeln verboten heute. Weiter zum Mölsjoch, wo wir ein letztes Mal über harmlose Almböden flanieren.
Dann allerdings vollkommener Szenen- und Kulissenwechsel: Statt weichem Wiesenboden harter Stein, statt ebener Erd‘ grausliches Blockwerk. Ewig lange fünf Stunden hanteln wir uns zwar markiert, aber steiglos über Block und Stein und müssen an einigen leichten, teils mit Stahlseil versicherten Blöcken sogar Hand anlegen – nichts für Verfechterinnen des langsamen, schönen Gehens. Scharfer Protest, Streik, Meuterei! "Das ist was für Bergziegen und nichts für uns Almkühe!", motzt die vertuxerte Almfee, verschränkt die Arme und bleibt bockig stehen. Sie hat Recht: Nun ist es kein Tux mehr, sondern vielmehr Tollerei. Aus dem Tuxer Way of Walk ist ein mühevolles Steigen, Stolpern und Hanteln geworden. Wie auch immer, wir müssen weiter, so leid es mir tut.
Mit Mühe locke ich sie weiter mit der Aussicht auf einen netten Hüttenabend. Keine Sorge, die Geschichte ist keineswegs gefährlich und auch trittsicheren AnfängerInnen durchaus zuzutrauen. Auf jeden Fall beweist sich hier die Richtigkeit unserer Gehrichtung, da wir so die schwierigen Stellen im Aufstieg zu bewältigen haben – was sich leichter und sicherer gestaltet als im Abstieg.
Eine Umgehung ist leider nur weiträumig über die rund 1.000 m tiefer liegende Vorbergalm und die Franz-Pitscheider-Hütte (bzw. den Gwannsteig über die Gwannschafalm) möglich oder aber man steigt vom Klammjoch über die Klammalm nach Navis ab und lässt den Inntåler Inntåler sein. Womit einem allerdings die ausgezeichnet geführte Glungezer Hütte und der finale Zirbenweg zum Patscherkofel entgehen. Nach gefühlten "twenty Tuxer summits" – weil etliche Erhebungen nicht als "Summits" zu erkennen waren und wir kurzerhand jeden Steinhaufen zum "Summit" erklärten – erreichten wir mit dem klar bekreuzten Glungezer den letzten "Tuxer summit". Gleich darunter die Glungezer Hütte, wo uns ein selten engagierter Hüttenvater empfing, der sich rührend um jeden seiner Gäste persönlich kümmert und auf ein Zirbenschnapserl einlädt. Der Hüttenabend im freundschaftlichen Ambiente entschädigte uns tatsächlich für die Mühen des Tages – und meine Almfee war besänftigt.
Alles Zirbe
Berühmt, beliebt, bevölkert – der Zirbenweg über den Glungezer-Höhenweg zur Bergstation des Patscherkofel gehört nicht nur uns. Was soll‘s, die Finaletappe des Inntalers ist zwar erlebenswert, führt aber auch unweigerlich zurück vom Alles- ins Nichtsland des Großstadtlebens.
Ein kurzes Bergab-Stück lenkt uns in zauberhaften Zirbenwald, der uns bis zum Patscherkofel begleiten wird. Fast am Weg die Viggarspitze, auf deren Gipfel gerne gepfiffen wird, zumal wir uns gestern völlig ausgegipfelt haben. Fast eben verläuft der Zirben-Skywalk nun entlang der Waldgrenze 2.000 m hoch über dem Inntal und stets mit Blick auf den Talboden des Inntales und zur Karwendelkette hinüber. Ab der Boscheben Hütte kommt uns immer mehr Fußvolk entgegen, was wir nach fünf Tagen fernab der Zivilisation naturgemäß als störend empfinden. Die vielen Stimmen, der knapp werdene Platz auf den Wegen, die aufkommende Unruhe, der Alltag hat uns wieder. Schade Spätestens im Patscherkofelhaus wissen wir: Die stillen Tuxer liegen endgültig hinter uns, die Erinnerung an sie aber tief in uns. Und auch den Tuxer Way of Walk haben wir bis heute beibehalten. |