Als ich einer befreundeten Bergführerin erzählte,
dass ich mit einem Dutzend vorwiegend jungendlicher Gletscher-Greenhorns
durch die Ötztaler wolle, und sie um Tipps bat, sah sie mich fassungslos
an und sagte: "Nimm folgende Dinge unbedingt mit: eine Packung
Baldrian, ein Gebetbuch und die Nummer eines guten Rechtsanwaltes."
Ich nahm von jedem zwei ...
Warum ich mich tatsächlich mit Alpin-Debütanten so hoch hinauf wagte?
Weil die Fun-Generation einmal wirklichen Fun erleben sollte,
weil sich die Ötztaler ideal für "absolut beginners" eignen
(eher harmlose Gletscher, halbwegs stabiles Wetter, eine ausgezeichnete
Hütten-Infrastruktur, verhältnismäßig kurze Distanzen zwischen den Wegpunkten),
und außerdem wusste ich, dass ich mit dieser Truppe durch dick und dünn
gehen konnte ...
Höchster und berühmtester Berg der Ötztaler Alpen (Teil der östlichen
Zentralalpen) ist die Wildspitze, zugleich zweithöchster
Gipfel Österreichs und Kulminationspunkt des Weißkamms. Als archäologische
Weltsensation entpuppte sich 1991 der Fund einer mumifizierten Leiche
im Schmelzwasser des Similaun-Gletschers. Wissenschafter datieren das
Alter des Mannes (bekannt als "Ötzi") aus der Bronzezeit
auf ca. 5.300 Jahre. Näheres siehe unten.
Tag 1
Vent (1896m) - Breslauer
Hütte (2844m)
1,25
St., 488 Hm (zu Fuß: 2,5 St.)
Wir beginnen wie echte Bergsteiger: Wir fahren mit dem Sessellift. Berni:
"Warum fahren wir mit dem Sessellift?" Ich: "Weil er
da ist."
Von der StableinAlm (2356m) zu Fuß (!) über leichten Gehweg
zur Breslauer
Hütte.
Um genug zeitlichen Spielraum zu haben, setze ich die Wildspitze gleich
an den Beginn dieser Rundtour. Außerdem bietet sich dieser Berg wie
kaum ein anderer als Debüt-Berg für Gletscher-Neulinge an.
Harmloser, bewölkter Himmel. Von der Hütte nordwestlich zum Mitterkarferner
und auf ihm oder dem, was von ihm noch übrig ist, am ÖtztalerUrkund vorbei und den SW-Sporn der Wildspitze herum. Nun über
aperes Gelände und spaltenfreie Schneefelder auf die tiefste Einsattelung
der hintersten Gletscherbucht zwischen Hinterem Brochkogel und
Wildspitze, bis rechts die Steilflanke des Mitterkarjochs
hochragt. Obwohl nicht notwendig, seilen wir uns gleichsam zum Training
an, montieren die Steigeisen und überprüfen einander Karabiner und Knoten.
Jetzt sehen wir wirklich aus wie Bergsteiger, nur Chrisi und Joi ähneln
mit ihren Brillen eher Schnabeltieren.
Los geht es in drei Seilschaften - langsam, langsam - Roger und Franzi,
die beiden Seil-Leader, machen ihre Sache gut, erteilen "überlebensnotwendige
Ratschläge" (Zitat Franzi): das Seil nicht zu locker und nicht
zu stramm, wer draufsteigt, zahlt eine Runde, Frontalzacken einsetzen
etc. Das steile Mitterkarjoch hoch. Zum Glück finden wir weichen,
gestuften Firn vor, sodass wir problemlos bis zum Sattel (ca. 3500m)
kommen. Vorsicht bei
Vereisung! Dann erfordert das letzte Stück gute Steigeisentechnik!
Vom Sattel flach über den langsam aufsteilenden Taschachferner
(Spalten!). Noch fällt es schwer, den richtigen Abstand zum Vordermann
zu halten und den eigenen Gehrhythmus auf den des Seilersten abzustimmen.
Da werden Flüche laut, die selbst Steinböcken die Haare zu Berge stehen
lassen - Max und Ju, die beiden Power-Brüder, in eine Seilschaft zu
stecken, kann mir auch nur im Delirium eingefallen sein. Ein paar Umstellungen,
die schnelle Biggi in die Pole-Position, und schon "laft's"
besser.
In der Mitte des Fernerhochbeckens ein selten eindrucksvolles Erlebnis:
Die Sonne bricht durch die dichten Wolken und schält nach und nach den
mächtigen Gipfelaufbau unseres Berges aus dem Dunst. Wir staunen, leben
auf, es kann nicht mehr weit sein, nur noch in eine flachere Firnzone
unterhalb des Gipfelaufbaues, dann über eine (oft vereiste) Firnschneide,
einen Felsgrat und einen "fiesen Teil", wie unsere deutschen
Freunde so eine Blockkletterei zu bezeichnen pflegen, und oben sind
wir, am S-Gipfel (3770m, Kreuz) der Wildspitze, dem höchsten
Punkt Nordtirols. Wir haben es geschafft, sind stolz auf unsere Leistung,
3770 Meter und ebensoviele andere Gipfelstürmer, macht nichts - wir
konnten unsere Pickel und Eisen "entjungfern" (Zitat Ju),
stehen ganz oben - das reicht allemal für ein Erlebnis, das wir nie
vergessen werden.
Die Feuertaufe ist bestanden, nichts ist passiert - leider, wie Stefan
seufzt, er hätte so gern geprusikt. Beim Rückweg genießen wir die "erträgliche
Leichtigkeit des Gehens" im Schnee, flotter, als wir eigentlich
wollen, landen wir wieder in der gemütlichen Breslauer Hütte.
3,5/2,5
St., 920 Hm
Tag 3
Wildes Mannle , 3023m
1,5
St., 400 Hm
Breslauer Hütte - Hochjoch
Hospitz (2412m)
4,5
St., 110/530 Hm
Weil er da ist, muss er eben bestiegen werden, der Berg,
der nebenan steht, so das Motto der "Verrückten", wie Maggi,
Mexi, Franzi, Christoph, Ju und ich bald genannt werden. Also hinauf
in aller Frühe wie die Wilden auf das Wilde Mannle, den Hausberg
der Breslauer Hütte und einen Schuttkogel ersten Ranges. Zunächst hinunter
in das Rofenkar, dann rechts oder links - egal, der Rofenkarsteig
führt auf beiden Seiten hinauf und wieder herunter, ein paar Drahtseilsicherungen
für besonders "Patscherte". Von oben aber ein atemberaubender
Blick auf die Südwand der Wildspitze.
Nun aber in Richtung Hochjoch Hospitz.
Der über Moränen, grüne Matten und die Quellen des Platteibaches
führende Seuffertweg lässt uns Zeit zum Schauen, Rasten und Genießen:
Weißkugel, Finailspitze und Similaun erweisen sich
als treue Begleiter. Die Vernagt
Hütte überspringen wir, wollen weiter zum kleinen und wahrscheinlich
weniger überfüllten Hochjoch Hospitz.
Wir sollten Recht behalten und einen gemütlichen Hüttenabend erleben:
Tarock, Jux und Tollerei - wie gehabt.
Früh starten wir in Richtung Hauslabjoch,Tagesziel:
Similaunhütte.
Zunächst hinab, dann über einen Gletscherbach (Brücke) und auf bezeichnetem
Steig durch Geröll in Richung Saykogel. Bevor wir jedoch den
Gletscher erreichen, verheißen dichte Wolken einen Wetterumschwung -
Umkehr, auch gegen das Gemurre des Fußvolkes. Neues Ziel:Bella
Vista.
Eine Abkürzung über den "Gletscherbach" zu Weg
14 erweist sich als unmöglich, der "Bach" eben doch als Fluss,
scheinbar überwindbare Stellen bei näherer Betrachtung als unüberwindbar.
Wieder was gelernt. Joi nimmt trotzdem - nicht ganz freiwillig - ein
Bad ... platsch. Also zurück zur Brücke und am westlichen Talrücken
des Flusses in Kehren empor, dann in ständigem Auf und Ab entlang des
Hochjochferners, dessen Eis jedoch nie berührt wird. Eine abenteuerliche
Stelle lädt zu einem Drahtseilakt a la "Cliffhanger" ein:
eine Minischlucht kann mittels Schaukellift bewältigt werden - ein Brett
unter den Hintern und los geht`s - eine Mordsgaudi.
Nach fast 3 Stunden überqueren wir die Grenze zu Italien
und zu deutlich schlechterem Wetter (typisch Italien, Zitat
Christian); das alte österreichische Zollhaus und ein Schild erinnern
an frühere Grenzsitten. Von dort nach einigen Minuten zum Wirtshaus
Schöne
Aussicht.
Weil bei den "Verrückten" noch Kraft über ist
und ein Kogel namens "Am Hintern Eis" dasteht, muss
der natürlich bestiegen werden.
Marquise von M. schildert dieses
weltbewegende Erlebnis folgendermaßen:
"War der
Berg auch während des ganzen Aufstieges sowie des Abstieges in relativ
dichten Nebel gehüllt, so wurde uns die unbeschreibliche Freude zuteil,
am höchsten Punkt - welcher auf exakt 3270m platziert war - für kurze
Momente die herrliche Aussicht auf die umliegenden Gletscher und Berge
zu genießen, welche, durch ein Wolkenloch bedingt, vor unseren Augen
emporragten. Beim Abstieg erheiterten wir uns am Beginn mittels Rutschpartien
über das Schneefeld, welches eine nicht zu unterschätzende Größe hatte,
und gelangten auf diese Weise recht rasch zurück zur Schönen Aussicht
(mir scheint, es dürfte sich nicht um eine viel längere Periode als
die Hälfte einer Stunde gehandelt haben). Die Summe der Höhenmeter,
die wir im Zuge dieses Ausfluges bewältigt haben, beträgt 390 hinauf
und selbstverständlich die selbe Anzahl zurück."
Tag
5
Wirtshaus Schöne Aussicht
(Bella Vista, 2842m)
Regen. Wir versuchen einen Aufstieg, müssen jedoch nach
einer Stunde unverrichteter Dinge aufgeben. Nur die "Verrückten"
kundschaften den Weg noch weiter aus, eine gute Idee, wie sich am nächsten
Tag herausstellen wird.
Ansonsten genießen wir die Bella
Vista, eine ***Hütte: Freundlichkeit des Personals: ***, Service:
***, Essen: *** (+ Nachschlag bei allen Speisen + reichhaltiges Frühstücksbuffet!),
Regen: ***, Angebot: *** (Sauna!!). Eine Hütte, die alle bisherigen
und kommenden in puncto Gastlichkeit um Längen schlägt.
Herrliches Wetter. Dank der gestrigen Erkundung finden
wir schnell hinab auf den Hochjochferner (Skigebiet), überqueren
das spaltenfreie (Pisten-)Eis bis zur Talstation eines Schleppliftes.
Nun unter den Wänden der Schwarzen Wand auf Toteisgletscher und/oder
Geröll, bis zu einer Stange (Achtung! Einziger Orientierungspunkt
weit und breit!). Dort in östlicher Richtung zu einem Schutthang,
über dem ein großer weiß-roter Punkt den Beginn einer Kletterpassage
markiert. Über einen schwer erkennbaren, ausgetretenen Steig in Serpentinen
hoch (Vorsicht! Der Hang ist sehr steil und kann Steinrutsche auslösen!
Unbedingt auf dem Steig oder der Eisrampe daneben bleiben!).
Bei der Kletterei handelt es sich um einen ausgezeichnet
gesichterten, mit roten Punkten markierten Klettersteig. Franzi,
Kletterass Nr.1, steigt vor, zeigt, wie es gemacht wird, dann das Fußvolk,
am Ende Christoph, Kletterass Nr.2. Nach kurzer Kletterei A, eine flache
Schneepassage, dann gleich wieder hoch und eine "fiese Stelle"
B-C, für die wir uns sogar Klettersteig-Sicherungen basteln. Am Ausstieg
wartet eine Stange und am Fuße der Finailspitze (die geht sich
aus Zeitgründen leider nicht mehr aus) ein kleines Gletscherhochbecken
- Spalten! Angeseilt (Randspalten!) über das Becken zu einer Felsrippe,
die ohne Höhenverlust und Probleme überstiegen wird. Nun in das wenig
geneigte, östliche Becken des Hochjochferners (Randspalten) zu einer
Orientierungsstange bei Punkt 3279m. Unter der wird auch schon
der große Steinobelisk sichtbar, der zum Gedenken an den 1991 hier aufgefundenen
Gletschermann (siehe unten) "Ötzi" errichtet wurde.
Nun über einen zünftigen Felsgrat (Sicherungen) hinunter
zur Similaun
Hütte. Diese Hütte erweist sich für Bella-Vista-verwöhnte Gäste
leider als Enttäuschung: unpersönliche Betreuung, chronische Überfüllung,
Massenabfütterung. Eine kalte Nacht im Winterraum (11 € !!) reicht uns.
Die "Verrückten" fühlen sich wieder einmal vollkommen
unterfordert. Weil er sich so verlockend aus den Wolken schält, müssen
wir hinauf - auf den Similaun. Von der Hütte über Geröll zum
Rand des Niederjochferners. Nun gleich etwas steiler, dann in
weit geschwungener S-Kurve über ein vergletschertes Hochbecken,am
Kleinen Similaun vorbei zum Westrücken des Similaun. Anfangs
steil über einen zuerst breiten, dann schärfer werdenden Firngrat, dann
zum Kreuz auf geräumigen Plateau. Wir werden reich belohnt für unsere
Mühe: Was uns die Wildspitze vorenthalten hat - hier finden wir es in
Hülle und Fülle: Platz, Ruhe und Fernsicht. Ein Traum.
Tag
7
Similaun Hütte - Martin
Busch Hütte
1,5
St.
Kreuzspitze (3456m)
2/1
St., 950 Hm
Vent
2
St.
Fluchtartig verlassen wir im Morgengrauen die Similaunhütte,
steigen umso gemütlicher dem Sonnenaufgang entgegen und durch das Niederjochtal
zur Martin BuschHütte
hinab. Über einen gut angelegten Steig NWW über Grashänge empor, durch
einen Steingarten (von Bergsteigern errichtete, mitunter kunstvolle
Skulpturen!), über Schutt zum Fuß des S-Grates. Nach Norden aufwärts
und über Schnee zum Gipfel (Kreuz). Da die Kreuzspitze gleichsam
wie ein Aussichtsturm in der Mitte des Weißkammes steht, überblicken
wir beeindruckt alle Wege, Hütten und bewältigten Gipfel der vergangenen
Tourenwoche - es ist geschafft, wir gratulieren einander und steigen
hochgestimmt ab, um auf der Terrasse der M.B.Hütte ordentlich zu frühstücken
(Sachertorte mit Schlagobers!).
Obwohl die Gletscher der Ötztaler immer harmloser
zu werden scheinen, sollte Vorsicht walten, da auch die Gletscherbrückendünner und brüchiger werden!
Wie überall am Alpenhauptkamm spielt das Wetter eine
entscheidende Rolle und darf nicht unterschätzt werden.
Alle Wege sind hervorragend markiert und instand
gehalten, dennoch ist gerade bei Nebel und Regen Vorsicht geboten
(vor allem auf den Gletschern).
Die Tour kann auch Jugendlichen ab 15 zugemutet werden,
so alle Regeln der Bergpädagogik beachtet werden. Für die Kletter(steig-)passagen
sind Klettersteigsicherung und Helm anzuraten!
Die Hütten sind leider ziemlich überfüllt, Voraus-Reservierungen
unbedingt anzuraten, Hüttenromantik findet sich höchstens in Erzählungen
...
Ein Vorteil dieser Rundtour
liegt darin, dass sie jederzeitabgebrochen werden kann.
Fußmarode und Kranke können problemlos von jeder Hütte ins Tal absteigen.
Geschichte
Der
Südgipfel der Wildspitze wurde von Leander Klotz aus Rofen
und einem unbekannten Bauern im Revolutionsjahr 1848 erstbestiegen,
der erste Tourist bereits 1857 hinaufgeführt. Den damals noch höheren
Nordgipfel erstieg 1861 ebenfalls Leander Klotz als erster
(über den Verbindungsgrat vom Südgipfel). Zu den ersten Touristen am
Gipfel gehörte der Venter Pfarrer Franz Senn, der seit 1862 im
hinteren Ötztal das Bergsteigen durch den Bau von Wegen und Schutzhütten
förderte.
Neueste Messungen haben erstaunliche Änderungen
in der Höhe der Wildspitze ergeben: Hier kann man
das Ergebnis des Abschmelzens der Schneekappe sogar mit freiem Auge
beobachten, denn mittlerweile ist nicht mehr der Nordgipfel,
sondern der Südgipfel (Gipfelkreuz) der höchste Punkt
Nordtirols: 3770m. Der Nordgipfel wurde von bisher 3772m
auf "ca. 3765m" heruntergestuft.
Der
Gipfel des Similaun wurde bereits 1834 von Josef
Raffeiner und dem Schnalser Pfarrer Theodor Kaserer betreten;
allerdings kann ihm sein Salzburger Amtsbruder Peter Carl Thurwieser
bereits im Jahr zuvor die Erstbesteigung weggeschnappt haben.
Am
Hauslabjoch, einem 3200m hoch gelegenen Pass
unweit der Grenze (93m) auf Südtiroler Seite wurde 1991 die Jahrtausende
lang in einer Felsmulde unter dem Eis des Niederjochferners eingeschlossene,
kältegetrocknete Leiche eines etwa 25-35 Jahre alten Mannes gefunden,
der auch Bekleidungsreste aus Leder, Stoff und Gras trug und einen Lederköcher
mit 14 Pfeilen. Das Alter der Funde wurde mit Hilfe der Radiokarbon-Methode
auf 5400-5300 Jahre bestimmt; der Mann stammt somit aus der mittleren
Jungsteinzeit des südlichen Mitteleuropa. Unlängst entdeckte man, dass
"Ötzi", wie der
Gletschermann hierzulande genannt wird, durch einen Pfeil verletzt oder
sogar getötet wurde.