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Wanderung, Weinviertel, 2014; Text/Bilder: © Thomas Rambauske

"Das Weinviertel ist wie ein Meer, das aufgehört hat, zu wogen. Das ist therapeutisch" bezeichnete Alfred Komarek die Landschaft zwischen Wien und der tschechischen Grenze. Dieses Meer durchqueren wir mitten im Winter in sechs Tagesetappen am Jakobsweg Weinviertel. Eine heilsame Erfahrung.

Die Route

Stille. Nur der Wind. Um uns die Wälder der Leiser Berge, in der Ferne der Weg, den wir schon gegangen sind, und jener, den wir noch gehen werden. Wir stehen am Gipfel des Buschbergs, der höchsten "Klippe" des Weinviertler Meeres. Drei Tage sind wir schon unterwegs am Jakobsweg. Drei erfüllte Tage. Erfüllt von der Gelassenheit der Landschaft und den vielen gesammelten Augenblicken. Erfüllt von den fünf Essenzen des Weinviertels: Landschaft, Geschichte, Kultur, Gläubigkeit, Wein.

Der Weg
Den Alltag und die Verkrampfungen abschütteln, die Melancholie aus dem Körper schwitzen, körperlich und seelisch entschlacken. Wie das funktionieren soll? Durch Gehen, oder noch besser: durch bewusstes, unangestrengtes Gehen. Ich gehe, also bin ich, ich pil­gere, also werde ich. Zum Menschen. Wie geschaffen für diese Art des beSINNlichen Gehens ist die Weinviertler Landschaft, deren wohl getakteter und fein dosierter Rhythmus zu dieser Art von heilsamem Gehen zwingt. Wer ihre Weite durchwandert, den steckt zugleich die Gelassenheit der sanft gewellten, sonnenhellen Weite an.
Der Jakobsweg Weinviertel basiert auf historischen Wurzeln und verläuft über 152 km zum Teil auf uralten Handelswegen von Drasenhofen über Mistelbach, Großrußbach und Stockerau bis nach Krems/Mautern an der Donau. Hier treffen wir auf den österreichischen Jakobsweg, der wiederum zum großen Ziel aller Jakobswege, ins spanische Santiago de Compostela, führt. Der größte Vorzug des hiesigen Jakobsweges: Er taugt perfekt für die wanderlosen Übergangszeiten, etwa zwischen Winter und Frühling oder Herbst und Winter – da hierorts kaum Schnee fällt bzw. dieser früh vergeht. Die ausgezeichnete Beschilderung des Weges mittels Wegweiser und Jakobsmuschel machen ein GPS-Gerät oder eine Karte fast obsolet.

Tage 1^

Tag 1: Das Meer
Den Rucksack geschultert in Drasenhofen, wo bereits alle wichtigen Themen unserer Wallfahrt anklingen: uralte Geschichte, schlichte Dorfkultur, mildsüßer Wein, landschaftliche Weite. Wo heute der Rebensaft das Sagen hat, verlief einst die wichtigste Nord-Südroute Mitteleuropas, die alte Kaiserstraße. Just hier in Drasenhofen verengte sich diese Route auf nur 4,65 m Breite, sodass sich diverse Berühmtheiten mit ihren Staatskarossen regelrecht hindurchzwängen mussten, unter ihnen etwa Maria Theresia, Kaiser Napoleon und Zar Alexander von Russland. Die "Kaiserstraße" von Drasenhofen ist die erste von vielen Kellergassen, die wir auf unserem Weg bis Krems durchwandern. "Wären wir dem Wein sehr zugetan, kämen wir bis Krems aus dem Saufen wohl nicht raus", sprach doch einer meiner Begleiter. Die in den Hang der Hohlwege gefügten Häuschen bilden die geheimnisvollen Eingänge in die unterirdische Welt des Weins. Keines sieht aus wie das andere, jedes buhlt auf seine eigentümliche Weise um Aufmerksamkeit. Entweder es ist ihr malerischer Verfall mit abblätternden Ziegelwänden oder Spinnweben über den kleinen Fenstern, oder deren äußerst liebevolle Renovierung, der die alten Gemäuer ein frisches Aussehen verdanken. Als wir durch die Kaiserstraße schlendern, ist es ruhig, zwischen den Jahreszeiten trifft man hier keine Menschenseele, während es im Herbst natürlich kirtagsartig zugeht.
Gleich nach Drasenhofen betreten wir die weite, freie Feldlandschaft der Seelüsse. Auf breitem Güterweg wandern wir langsam dem Schweinbarther Berg entgegen. Zwischen den Jahreszeiten bedecken dicke Erdschollen die Äcker, trockene Gräser rauschen wie Schilf im Wind. Bis auf ein paar aufflatternde Wachteln und vorbeituckernde Traktoren bleibt es still am Weg. Auf einer Feldkuppe drehen wir uns um und blicken auf unseren bisherigen Weg zurück – auch das ein Charakteristikum dieses Weges: Alles Gegangene, Beschrittene, Eroberte, aber auch noch zu Begehende lässt sich lange überblicken, denn hier "im Weinviertel steht dir überhaupt nichts im Weg, da schaut man von Horizont zu Horizont", schwärmt der Polt-Autor und Weinviertel-Liebhaber Alfred Komarek. Und weiter: "Das Weinviertel ist wie ein Meer, das aufgehört hat, zu wogen. Das ist therapeutisch." Tatsächlich glaubt man, ewig durch dieses Meer zu marschieren und doch nie weiterzukommen, geschweige denn irgendwo anzukommen. Dennoch: Land in Sicht in 10 Kilometern – Poysdorf. Die genussvolle Gelassenheit, Sinnlichkeit und Sanftheit der Weinviertler Landschaft färben rasch auf uns ab. Während die Schatten auf unseren Gemütern verschwinden, werden die Schatten unserer Gestalten immer länger, die Sonne und ihre Farbenschleier senken sich über die Fluren und Rieden, vor uns die mächtig auf einer Kalkklippe thronende Burgruine Falkenstein, die so alt ist wie die Besiedelung des Weinviertels. Falkenstein war bereits im Mittelalter ein Zentrum des Weinbaus und seit 1309 Sitz des "Berggerichts", das für alle Fragen in Weinbauangelegenheiten zwischen Wien und Brünn zuständig war.
Nach der Kellergasse von Falkenstein betreten wir erstmals Wald. Die hiesigen Wälder sind weder dicht noch groß, kaum, dass wir mehr als einen Vierteltag darin verbringen werden. Nie steil bergauf oder -ab, sondern stets genießerisch durchschreiten wir lockeren Tann, nicht weit weg hören wir einen Hirsch röhren. Sobald wir das Ende des Waldes erreichen, geht’s hinunter in die feine Riedenlandschaft und "Kellergstättn" von Poysdorf, wo neben originalen Presshäusern und Kellern eine Überraschung auf uns wartet, nämlich ein "Selbstbedienungs-Weinkeller", wo man gegen wenig Geld nebst Mineralwasser einen sehr guten DAC-Wein erstehen kann. Prost! So lässt sich’s leben auf Pilgerschaft!

TAG 2

Tag 2: Die Landschaft
Den Prolog des zweiten Tages bildet die Promenade entlang des Poysbaches zur uralten Wallfahrtskirche Maria Bründl in Wilhelmsdorf. Windgeschützt marschieren wir durch Wälder, während außerhalb kalter Wind über die Landschaft fegt. Vom Waldrand aus blicken wir über freie Felder auf die ersten Häuser von Mistelbach und eine sich bis zum Horizont hügelnde Landschaft. Die landschaftliche Schlichtheit, Weichheit und verhaltene Heiterkeit muntern uns auf. Alfred Komarek empfindet es ebenso: "Es ist eine leisere zurückgenommene Landschaft mit einem langsameren Tempo. Das tut sehr gut."
Mistelbach. Die quirlige Stadt brüstet sich mit einer langen Geschichte, kulturellen und architektonischen Besonderheiten und einer langen Tradition. Gut, hier zu bleiben.

TAG 3

Tag 3: Der Gipfel
Die längste Etappe ist auch die landschaftlich schönste und "gebirgigste", wenn man so sagen will. Schon bald nach dem Aufbruch verschwinden wir im Leiser Wald. Es riecht nach auftauender Erde, altem Holz und brackigem Wasser. Manchmal nur öffnet sich der Tann und gibt einen Blick auf das sich sanft wellende Land frei – den Naturpark Leiser Berge. Über die für sie so charakteristischen Trockenrasen steigen wir zum Buschberg auf, die höchste Erhebung des niederösterreichischen Weinviertels und zugleich eine der wenigen "Inseln" des Weinviertler Meeres. Der Weg dorthin, aber auch zum später folgenden Oberleiser Berg ist zugleich ein Weg zurück in die frühe Geschichte der Region. Funde bewiesen, dass die Gegend rund um den Buschberg schon sehr zeitig besiedelt war, wahrscheinlich aufgrund seiner exponierten, für militärische Stützpunkte so idealen Lage. Das schätzt man bis heute, wie die golfballähnlichen Radarstationen für die zivile und militärische Luftfahrt beweisen. Was sonst noch zu sehen ist? Das ganze Wiener Becken, Schneeberg und Rax, ja sogar die südlich aufragenden Gipfel der Kalkalpen. Und der Buschberg weist noch eine Besonderheit auf: die Buschberghütte, mit nur 484 m die niedrigst gelegene Alpenvereinshütte der Alpen.
Wir bleiben im Weinviertler Gebirge, steigen auf schmalem Steig hinunter und flanieren über steppenartige, mit pannonischer Flora bedeckte Heidewiesen Richtung Oberleis und Oberleiser Berg, den nächsten Ausblicksbalkon. Seine 23 m hohe Warte gewährt einen Blick bis zu den Karpaten – und in 6.000 Jahre alte Geschichte des Berges. Ein Schauraum im Erdgeschoß erzählt die alte Besiedlungs-
historie der Leiser Berge, zeigt Bilder von den ältesten Funden wie einen quer über das Plateau verlaufenden Befestigungsgraben aus der ausgehenden mittleren Jungsteinzeit und einen Ringwall, den keltische Siedler in der zweiten Hälfte des 3. vorchristlichen Jahrhunderts hier heroben errichteten. Als wir an diesem einst sehr belebten, heute aber menschenleeren Ort ankommen, geht die Sonne unter und beginnt uns kalter Wind zu umspielen. Nebelschlieren wogen über das Wiener Becken, das Weinviertler Meer scheint aus seiner Erstarrung zu erwachen. Wir steigen zur Kirche von Oberleis zurück ab, wenden uns dort nach links und gelangen über Felder nach Ernstbrunn.

TAG 4

Tag 4: Die Inselberge
Vom Ortszentrum Ernstbrunn lenkt der Weg in die "Böhmfelder" und also wieder in die Unendlichkeit des Weinviertels. Bis zum Horizont Feldhügel wie Meereswogen, dazwischen einige wenige Erhebungen, die wie Meeresklippen aus den Wellen ragen. Ja, das Weinviertel bietet jede Menge Freiräume. "Dem Geist Raum geben", lautet passend dazu auch das Motto des Bildungszentrums Großrußbach, des spirituellen Zentrums des Weinviertels, das wir gegen Mittag passieren. Unser Jakobsweg verläuft nun auf der Kaiser-Franz-Josef-Straße stadtauswärts, der Duft von Kaminfeuern liegt in der Luft, vor manchen Häusern stehen Selbstbedienungsstände zum Verkauf von Äpfeln. Den Michelberg, diese nächste Weinviertler "Klippe", vor
Augen, wandern wir über Karnabrunn durch den Rohrwald und schließlich abwechselnd durch Wald und über Wiesen zum freien Gelände am Stein- und Grillenberg. Die nächste schöne Bergetappe. Bergsteiger mögen über diese Hügel die Nase rümpfen, Pilger und Meeresliebhaber allerdings werden ihr Herz an diese süße Inselbergwelt verlieren. Den Gipfel des Michelberges markiert die Wallfahrtskirche, wie sie seit Jahrhunderten dort vorzufinden ist: der Höhepunkt des heutigen Tages – für uns der gesamten Tour. Magisch, sinnlich, beglückend der Moment, als wir bei Sonnenuntergang den Gipfel betreten. Der Schattenriss der Kapelle von den Farben des Himmels umspielt, ein Paar umarmt davor, und wir Pilger in dieser heiligen Abendstunde. So wird das, was der Wallfahrer sucht, ahnbar. Ein Gott, ein Sinn, ein Glück – was auch immer. Ahnbar im letzten Dämmerlicht der Alpenbogen vom Schneeberg bis zum Traunstein und das Donautal bis nach Wien. Wir bleiben lange hier sitzen, schweigend, wartend, bis die Sonne hinter den fernen Bergen verschwunden ist, und machen uns in ihrem Nachflimmern auf den Weg hinunter in den Sattel zwischen Haselbach und Goldenem Bründl und weiter zum Gipfelkreuz des nächsten Inselberges, des Waschbergs, von wo wir die Lichter unseres nächsten Tagesziels, Stocke­rau, sehen. Der Waschberg ist auch Natura 2000-Gebiet, da er eine Vielfalt an Pflanzen – vor allem Orchideen-Arten – beherbergt. Mit Stirnlampenlicht steigen wir über den steppenartigen Westhang nach Leitzersdorf hinunter und marschieren durch ebene Feldlandschaft nach Stockerau.

TAG 5

Tag 5: Der Wagram
Der nun folgende Weg ist im Vergleich zu den gestrigen "Gebirgsetappen" etwas eintönig, ich gebe es zu. Für Abwechslung sorgen alte, hingeduckte Siedlungen mit verborgenen Reizen wie Hausleiten mit der Basilika St. Agatha oder die uralte Weinstadt Gaisruck. In Stetteldorf passieren wir das "Tor zur Region Wagram". Mit dem "Wagram" ist ein bis zu 40 Meter hoher, lang gestreckter Höhenzug in Niederösterreich gemeint, der die Donau auf beiden Seiten begleitet und auf ihrer Nordseite eine steile, weithin sichtbare Geländestufe aus eiszeitlichem, fruchtbarem Löss darstellt. Wir werden ihn morgen noch besser erleben. Unverdünnt die Ingredienzen dieser Weinviertler Gegend: oben der Himmel, unten der weiche Lössboden, ringsum der weite Blick über Felder und Weinrieden bis zum Ötscher. Hippersdorf, Königsbrunn, Kirchberg am Wagram. Die Beine schmerzen vom monotonen Marsch. Na gut, schließlich gehört auch ein wenig Buße zu einem Pilgerweg.

TAG 6

Tag 6: Der Löss
Ich gebe auch zu, die vom monotonen Marschieren wehen Füße haben uns dazu überredet, die letzten Kilometer unseres Weges mit dem Rad zurückzulegen. Das Weinviertel mit seiner nie steilen, sondern leicht gewellten Geländeform ist ja auch ein Radland. Auch wer hier durch die Gegend surft, lernt die Leichtigkeit des Lebens kennen. Also aufgesessen und losgesurft zum Finale unseres Wallgangs, der nunmehr zur Wallfahrt geworden ist. Über Fels am Wagram und Feuersbrunn, einen der ältesten und bedeutendsten Weinbauorte in Niederösterreich, geht es dem Ende des Wagrams zu ins Kamptal und dem Kamp gefolgt geradewegs in die Wachau. Durch eine Kellergasse und einen steileren Weg geht es hoch in die Weingärten von Gedersdorf, um dann das wohl eigenartigste Landschaftsbild unserer Tour zu erleben: das des Löss. Das weiche, hellgelblich-graue Sediment, das sich neben dem Weg auftürmt, wurde während der letzten Eiszeit per Wind von der Urdonau und den kahlen Kiesfluren des Alpenvorlandes hierher getragen. Der Mischung aus Quarzsand, Glimmer, Ton und Kalk verdankt der hiesige Wein seine hohe Qualität. Dementsprechend führt der Weg nun durch weingetränkte Riedenlandschaft nach Krems. Als wir in die Hauptstadt der Wachau einfahren, wissen wir, dass das Weinviertel therapeutisch gewirkt hat.


Ausgangspunkt:
Routenvorschlag:
1. Tag: Drasenhofen – Falkenstein – Poysdorf, 16 km,  6,5 Std.
2. Tag: Poysdorf – Mistelbach, 15 km,  4 Std.
3. Tag: Mistelbach – Buschberg – Oberleiser Berg – Ernstbrunn,  25 km,  7 Std.
4. Tag: Ernstbrunn – Großrußbach – Michelberg – Stockerau,  35 km,  9 Std.
5. Tag: Stockerau – Königsbrunn – Kirchberg am Wagram,  29 km,  7,5 Std.
6. Tag: Kirchberg – Gedersdorf – Krems/Mautern,  30 km,  8–9 Stunden, per Rad  3,5 Std.
Gesamthöhenmeter:
Pfeil up Pfeil down 1.484
Gesamtgehzeit (in Stunden):
Pfeil up Pfeil down ca. 42
Gesamtlänge (in Kilometer):
Pfeil up Pfeil down ca. 152
Schwierigkeiten/Anforderungen:
Die Tour lässt sich in 6 Tagesetappen mit je 6–9 Std. Gehzeit einteilen. Die Wege sind leicht, die letzten beiden Etappen lassen sich aber durchaus auch per Rad und im Winter absolvieren, da hier kaum Schnee liegt. Ausgangspunkt Drasenhofen: via Laa/Thaya oder Mistelbach mit Bahn und Bus 431 leicht zu erreichen.
Ausrüstung:
Karte:
freytag & berndt, WK 014
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