Der Rossgipfel im Wienerwald (Buchelbach, Weidenbach) ist trotz seiner geringen Höhe von nur 633 m in zweierlei Hinsicht ein Kultberg: Einerseits weil er zu den wenigen Wienerwaldbergen mit Gipfelkreuz und Gipfelbuch gehört und dennoch kein markierter Weg zu seinem höchsten Punkt führt, andererseits weil dort seit rund sieben Jahren ein Phantom namens "Bruno" unterwegs ist. Bruno erlief seit dem Jahr 2002 beinahe täglich, mitunter auch zwei bis drei Mal pro Tag, den Gipfel des Rossgipfels und hinterließ im dortigen Gipfelbuch seine nachlesbaren Spuren samt Gehzeit und fortlaufender Zählung seiner Gipfelsiege. Als die Seiten im Jahre 2006 plötzlich leer blieben, also der Rossgipfel eines seiner Wahrzeichen verlustig zu gehen schien, lancierte die besorgte Wienerwaldgemeinde folgenden Rundruf: "Wer kennt 'Bruno', der in den letzten Jahren am Rossgipfel seine besonderen Spuren hinterlassen hat, und weiß, weshalb er sein Rossgipfel-Hobby so schlagartig abgebrochen hat?"
Trotzdem Bruno wenig später wieder seine Rossgipfel-Läufe fortsetzte, blieb er bis heute ein Phantom, dem bislang niemand begegnete, von dem es kein Bild, keine Stimme, keinen Existenzbeweis gab – außer natürlich seine Gipfelbucheintragungen.
Längst also Zeit, sich auf die Suche nach Bruno, dem Phantom vom Rossgipfel, zu begeben.
Der bisher einzige Beweis von Brunos Existenz: Die mit rotem Filzstift verfassten Gipfeleintragungen
Die Annäherung
Die Wanderung auf den Rossgipfel gestaltet sich nicht schwierig, dennoch sollte man sich aber mit der Karte vertraut machen, da die Wege – und derer gibt es sonder Zahl – unmarkiert sind und der Gipfel selbst nicht leicht zu finden ist. Einige der in der Karte eingezeichneten Schneisen sind mittlerweile zu Forststraßen geworden, andere zugewachsen.
Wir lassen das Auto kurz nach Klausen-Leopoldsdorf in Richtung Stangau stehen und folgen einer rot markierten Forststraße (Weg 448) Richtung Weidenbach. Wer hier Ende März unterwegs ist, wird zwischen Schneeresten Primeln und Krokusse hervorlugen sehen. Etwas bergan an seltsamen Vorrichtungen vorbei (siehe Bild rechts; wer sie mir erklären kann, bitte Kontakt mit mir aufzunehmen!), bis ein kleiner Waldsteig nach links abzweigt. Über einen Bach und weiter bergab bis zu einer Asphaltstraße. Dort nach rechts, wo gleich nach einer Kurve Weidenbach auftaucht (450 m, 1/2 Stunde), ein Weiler mit einigen Häusern und Wiesen. Nun ein kleines Stück Richtung Buchelbach/Sulz, über einen Bach, schließlich unmarkiert und weglos nach Südost über eine Forststraße. Durch eine gerade noch erahnbare Schneise hurtig bergan (dreht man sich um, sollte unterhalb ein Wohnhaus zu sehen sein), bis eine weitere Forststraße gequert wird. Danach kurz eben, dann wieder etwas steiler, bis links eine gut ausgeprägte und überaus gepflegte Waldschneise zum Gipfel führt. Als ich hier gedankenverloren hoch schlendere, fällt mir ein Mann mit seltsamem Gebahren auf: Emsig Steine und Äste vom Schneisenweg räumend, nähert auch er sich dem Gipfel ...
Die Begegnung
Zeitgleich erreichen wir das kleine Gipfelkreuz samt Gipfelbuch und einem Plastiksessel. Ringsum wachsen Bäume hoch, nur ansatzweise lassen Waldlücken eine Art Ausblick zu. Ansonsten herrscht hier eine Stille wie selten auf einem Wienerwaldberg. Der ältere Mann begrüßt mich freundlich, erkundigt sich über meinen Aufstiegsweg. Als ich zurückfrage, macht mich seine Antwort hellhörig: "Ich komme jeden Tag woanders her, gestern war ich zwei Mal hier heroben, und auch heute werde ich nochmals hochsteigen ..." Ich beginne zu ahnen, dass sich in diesem Augenblick eines der größten Rätsel der Weltgeschichte löst ... Weil ich es nicht glauben kann, frage ich nach, wie oft er bisher den Rossgipfel bestiegen habe: "Über 2.500 Mal!" – B R U N O ! Vor mir steht er also, Bruno!, leibhaftig, die Legende, der Mythos, der sagenumwobene Rossgipfel-Bruno! I F O U N D B R U N O ! So ähnlich wie ich in diesem Augenblick muss sich Reini Messner gefühlt haben, als er dem Yeti begegnete! Bruno! Stolz zeigt er mir das mit roten Zeilen durchsetzte Gipfelbuch. Nur je eine einzige Zeile benötigt er für seine Eintragungen samt Uhrzeit und fortlaufender Nummerierung.
Am Ende der Eintragungen ein Zettel, auf dem er die anderen Gipfelgänger bittet, Platz sparend jede Zeile vollzuschreiben. Finde sich dann dennoch eine leere Zeile, fülle er diese sofort mit seinen Eintragungen, gesteht mir Bruno. Bruno scheint auf den ersten Blick ein ganz einfacher Mittsechziger zu sein, mit Windjacke, roter Wollmütze und Waldviertler Schuhen, die mehr aushielten als jeder Bergschuh, so Bruno. Sprach's, setzt sich auf den Sessel und trägt sich zum x-ten Mal in sein Gipfelbuch ein.
Weshalb er sooft hier hinaufkomme, frage ich ihn. "Weil er es brauche", lautet seine kurze Antwort. Nur zwei Mal sei er außer Gefecht gesetzt gewesen, einmal vor etlichen Jahren wegen einer hartnäckigen Verkühlung, und diesen Winter, weil er sich eine Zehe gebrochen hat, als er mit den Füßen Steine von seinem Weg kickte. Er halte die Wege von Steinen und Ästen sauber, damit er oder jemand anderer nicht stolpert. Tatsächlich erweist sich die Gipfelschneise als die wohl sauberste wienerwaldweit. Kein Stein, kein Ast, kein Papierfetzerl – alles pikobello. Seit wann er hier seine Runden ziehe? "Seit dem 4. März 2002, als mich die Menschenmassen vom Hohen Lindberg vertrieben haben. Hier bin ich alleine und für mich, obwohl auch hier langsam alles zerstört wird durch wüste Rodungen etwa, die einst schöne Wege unbegehbar machen". Früher sei er direkt von Alland, woher er stamme, über das Barbarakreuz hierher hochgestiegen, was jetzt nicht mehr möglich sei, da der ganze Wald zerstört worden sei.
Und wie oft er tatsächlich schon heraufgekommen sei. An diesem Tag das 2.694. Mal, heuer werde er sicher die 3000. Rossgipfel-Tour feiern. An manchen Tagen steige er ein Mal hoch, manchmal drei Mal. "Es gehört nur eine gewisse Stetigkeit dazu, sonst nichts", sprach's und lädt mich ein, mit ihm auf "seinem" Weg ins Weidenbachtal abzusteigen.
Brunos Weg
Langsam und bedächtig geht er voraus, warnt mich vor rutschigen Stellen. An einem Baum am Ende der Schneise hängt ein Plastiksackerl mit Wasserflasche und Banane. Das sei sein "Notfall-Depot", falls ihm mal etwas passiere, erläutert mir Bruno dessen Geheimnis. Wir steigen die breite Schneise bergab, zwischen den Bäumen blickt man manchmal weit über den Wienerwald. Auf einer mit Primeln und Huflattich dekorierten Forststraße spazieren wir mit der ganzen Leichtigkeit des Wienerwald-Seins bergab. Während auf meinem Anstiegsweg vom Norden her noch der Winter nachklingt, hat hier schon längst der Frühling begonnen. In einigen Bach-Kolken tummeln sich paarungswütige Lurche.
Nach seinen eindrucksvollesten Rossgipfel-Erlebnissen gefragt, erzählt mir Bruno von einer Begegnung mit einer fünfköpfigen Fuchsfamilie und einem Wildschwein-Clan, der seelenruhig seinen Weg gekreuzt habe. Auch Reiher und Äskulapnattern habe er schon beobachtet. Das sei das Schöne an seinen täglichen Rossgipfel-Touren: Selbst bei Wind und Wetter erlebe er die Launen und den Wandel der Natur unmittel mit. Es sei selbst bei Regen und Nebel ein wunderschönes Erlebnis, hier seine Runden zu drehen. Nur letztes Jahr habe es ihm keinen Spaß gemacht, als er bei Glatteis drei Mal solange gebraucht habe. Nur bei Sturm meide er den Gipfelkamm aus Angst vor Windsturz. "Ja, man muss den Rossgipfel erforschen, alle Möglichkeiten erkunden – und selbst dann entdeckt man noch vieles Unbekannte".
Nach einer halben Stunde langen wir im Weidenbachtal an, wo zur Zeit der Schneeschmelze der Bach überfließt und der Bärlauch den Boden mit einem tiefgrünen Teppich bedeckt. Hier verabschiedet sich Bruno knapp, kehrt um und steuert zum zweiten Mal "seinen" Gipfel an. Man spürt, dass ihn ein innerer Antrieb steuert, ein seltsamer Instinkt immer wieder von Neuem hochtreibt zu seinem Gipfel. Ich weiß nicht recht, wie ich ihn einordnen soll, als seltsamen Kauz, als unsteten Geist oder Flüchtigen, eines ist er sicher: ein Genießer, der auf seine Weise Erfüllung sucht und findet. Auf seinem Rossgipfel. Meine allerhöchste Bewunderung hat er jedenfalls. Auf diesem Wege, lieber Bruno, alles Gute – vielleicht treffen wir uns bei deinem 3.000. Mal ja wieder.
Dem Erlebten nachhängend wende ich mich nach links und steuere, begleitet vom Rauschen des Bachs, Weidenbach an der Nordseite des Rossgipfels, also die Winterseite, an. Es kehrt wieder Ruhe ein am Rossgipfel mit seinen Füchsen, Lurchen – und Bruno.
Einen Wienerwaldkenner darf sich nur einer nennen,
der den Rossgipfel erstiegen und
den Kahlenbergergrat durchklettert hat!