Gerlinde Kaltenbrunner hat mit der Besteigung aller 14 Achttausender österreichische Alpingeschichte geschrieben. Der Weg dorthin ist von Zähigkeit und Zielstrebigkeit geprägt, aber auch mit tragischen und glücklichen Momenten gepflastert.
23. August 2011, Karakorum, K2-Nordpfeiler: Frühmorgens. Eiskalte minus 25°. Windstille. Vier Bergsteiger kämpfen sich durch knietiefen Schnee, wechseln sich alle zehn Schritte bei der Spurarbeit ab. Unter ihnen Gerlinde Kaltenbrunner. Sechs Mal hat sie sich am zweithöchsten Berg der Welt schon versucht, sechs Mal war sie gescheitert. Auch diesmal scheint ihr der Berg den Gipfel zu verwehren, aber Kaltenbrunner gibt nicht auf ...
Lehrjahre
Gerlinde wird am 13. 12. 1970 in eine kinderreiche, ganz und gar nicht bergaffine Familie hineingeboren. Das Interesse fürs Bergsteigen weckt der Pfarrer ihrer Heimatgemeinde Spital am Pyhrn, Dr. Erich Tischler. Der begeistere Kletterer und Skitourengeher nimmt die Ministrantin nach der Sonntagsmesse auf seine Touren mit und legt damit den Grundstein ihrer Leidenschaft. "Die Leute konnten nicht so schnell aus der Kirche draußen sein, wie wir auf den Bergen", so Gerlinde Kaltenbrunner heute.
Während sie als 13-Jährige die Skihauptschule Windischgarsten besucht, unternimmt sie erste leichte Klettertouren am heimischen "Sturzhahn", im Winter Skitouren. Mit 16 weckt ein Dia-Vortrag über den K2 den Traum vom Karakorum und davon, die imposantesten Giganten der Welt zumindest von unten zu sehen. Noch aber heißt es, alle Träume beiseite zu schieben und die Ausbildung zur Krankenschwester in Rottenmann und im Wiener Krankenhaus Rudolfstiftung abszuschließen.
Mit dem Bergführer Siegfried Wasserbauer tritt dann die erste Liebe und die zweite bergsteigerisch prägende Gestalt in ihr Leben. Mit ihm unternimmt sie (Eis-)Kletter- und Alpintouren, verbessert sie ihre Technik und beginnt Pläne von der ersten Achttausender-Besteigung zu schmieden.
Ihre klettertechnische Meisterprüfung legt sie an der Matterhorn-Nordwand ab, ihr größter Traum geht im Alter von 23 Jahren mit der Besteigung des Broad Peak-Vorgipfels (8.027 m, 2. Juli 1994) in Erfüllung. Das Geld für diese Expedition verdiente sich Kaltenbrunner zum Teil auch durch Geldprämien, die sie bei Mountainbike-Rennen gewann.
Meisterprüfungen
Am 6. Mai 1998 steht sie auf dem ersten Hauptgipfel eines Achttausenders: am Cho Oyu. In den folgenden Jahren investiert sie jeden Cent, den sie als Krankenschwester und als Vertreterin eines Sportartikelhändlers erspart, in die Realisierung ihrer Bergträume: Bald folgen der Makalu und der Manaslu, an dessen Fuß sie auch Ralf Dujmovits kennenlernt.
Am 20. Juni 2003 erreicht Kaltenbrunner schließlich als erste Österreicherin den Gipfel des Nanga Parbat und einen vorläufigen Höhepunkt ihrer Karriere. "Cinderella Caterpillar", wie sie angesichts ihrer beeindruckenden Spurarbeit von ihren kasachischen Weggefährten genannt wird, verschreibt sich nun ganz dem Profibergsteigen und lebt von Vorträgen und Sponsoren. 2004 erreicht Kaltenbrunner mit ihrem Freund und Seilgefährten Ralf Dujmovits den Gipfel der Annapurna I (8.091 m) und des Gasherbrum I (8.068 m) im Karakorum. Spätestens jetzt wird Gerlinde als Nachfolgerin der seit 1992 verschollenen Polin Wanda Rutkiewicz tituliert, die vom Besteigunsversuch ihres neunten Achttausenders nicht mehr zurückkehrte. Und die Medien eröffnen das "Rennen" um die "erste Frau auf allen Achttausendern" zwischen Kaltenbrunner, Edurne Pasaban und Nives Meroi . Gerlinde allerdings will davon nichts wissen und wird nicht müde zu behaupten: "Es trifft zu, dass ich alle vierzehn Achttausender besteigen möchte, aber ich muss es nicht als Erste tun. … Mir geht es um meine persönliche Freude daran, um die Lust an der Herausforderung", heißt es etwa in ihrem Buch "Ganz bei mir" (S. 239). Man nimmt es ihr ab, es geht Gerlinde nicht um Rekorde, sondern um das Erlebnis Berg an sich, um das Ausleben ihrer Leidenschaft, um das Ausgesetztsein. Wer ihre Vorträge besucht, erkennt schnell, das Bergsteigen für sie Lebensform, Lebensinhalt, Lebenssinn ist – und keineswegs eine Rekordjagd. Im gleichen Sinne geht es ihr auch nicht um die "Eroberung der Berge", sondern um ihr reines Erleben. Selbst eigene Kinder scheinen in diesem Lebenskonzept keine Rolle zu spielen: "Ich habe Kinder unheimlich gern, aber man kann nicht alles haben, man muss sich entscheiden. Und ich habe das Gefühl, so, wie es jetzt ist, ist es richtig. Das ist mein Leben", erklärt Gerlinde auf die Frage nach ihren familiären Zukunftsplänen.
Bergsteigen ist für mich kein Wettkampf. Es ist mein Leben.
Höchstleistungen
Auch das Jahr 2005 ist ein überaus erfolgreiches: Als erste Frau durchsteigt Kaltenbrunner die Shisha Pangma-Südwand. Mit dabei wieder Ralf Dujmovits und der 34-jährige Japaner Hirotaka Takeuchi. Letzteren rettet sie anschließend das Leben, als er am Mount Everest in 7650 Metern Höhe eine Hirnödemattacke erleidet. Die examinierte Krankenschwester behält die Nerven und beweist, dass sie keine von Ehrgeiz getriebene Rekordjägerin ist. Den höchsten Gipfel der Erde greifbar vor sich, betreut sie den lebensgefährlich erkrankten Takeuchi und geleitet ihn nach durchwachter Nacht zusammen mit Dujmovits in ein vorgeschobenes Basislager auf 6300 Meter Höhe. Menschliche Größe also statt kompromisslosem Gipfelstreben: "Am Everest umkehren zu müssen, um einem Freund das Leben zu retten, macht uns nochmals unendlich reicher", so Ralf Dujmovits und Gerlinde Kaltenbrunner.
2005 erreicht Gerlinde den Gipfel des Gasherbrum II, ein Jahr später mit dem Kangchendzönga ihren neunten Achttausender-Hauptgipfel. Am 24. März 2007 heiratet sie Ralf Dujmovits und bricht unmittelbar nach der Hochzeits(trekking)Reise zum Dhaulagiri (8167 Meter) auf. Die Expedition wird zur dramatischsten, die sie erlebt hat: Am Nachmittag 12. Mai erreiche sie mit den Spaniern Santiago Sagaste, Ricardo Valencia und Javi Serrano Lager II auf 6650 Meter, einen vermeintlich lawinensicheren Platz. Gegen 9 Uhr – Kaltenbrunner ist gerade mit Schneeschmelzen in ihrem Zelt beschäftigt – wird das Lager von einer Lawine begraben. Gerlinde verdankt ihr Leben einem am Sitzgurt befestigten Messer, mit dem sie das Zelt aufschneiden und dem Erstickungstod zu entkommen kann. Auch Javi überlebt, während Sagaste und Valencia unter etwa zwei Meter Schnee begraben werden.
Noch im selben Jahr eine waghalsige Idee: Broad Peak und daran anschließend der K2! Ersteren schafft sie problemlos mit Ralf, am K2 scheitert sie zum ersten Mal aufgrund eines Sturms. 2008: Dhaulagiri, 2009: Lhotse, 2010: Mount Everest
August 2010: Kaltenbrunners sechster Versuch, den schwierigsten Achttausender der Welt zu besteigen, schlägt wenige hundert Meter unter dem Gipfel fehl. Nach der Übernachtung auf dem 8000 m hoch gelegenen Lager IV startet sie mit ihrem schwedischen Seilgefährten Fredrik Ericsson nochmals Richtung Gipfel. Beim Versuch, einen Stand zu errichten, stürzt der Schwede jedoch rund 1.000 m ab und zieht sich dabei tödliche Verletzungen zu. Kaltenbrunner bricht den Aufstieg ab und kehrt ins Lager zurück.
Der Triumph
23. August 2011: Karakorum, K2-Gipfelgrat: Für die letzten 300 Meter bis knapp vor den Gipfel des K2 haben die vier – mit dabei die Kasachen Maxut Zhumayev und Vassiliy Pivtsov sowie der Pole Dariusz Zaluski – zehn Stunden gebraucht. Als sich die Verhältnisse bessern, löst sich "Cinderella Caterpillar" von ihren Begleitern und steht um 18.18 Uhr Ortszeit am Gipfel ihres "Schicksalsberges", aber auch am Ziel ihres Traums, alle 14 Achttausender zu besteigen.
Dreizehn Jahre und vier Monate, nachdem Kaltenbrunner auf ihrem ersten Achttausender gestanden war, komplettiert sie damit eine Serie, die überhaupt erst 27 Menschen gelungen ist und das "by fair means", das heißt ohne Zuhilfenahme von künstlichem Sauerstoff, ohne Fixseile und ohne Hochträger. "Es ist ein Geschenk, hier stehen zu dürfen", sagt sie nach ihrem Erfolg am K2. Und es habe sich ein Lebenstraum für sie erfüllt.
Aufstieg und Triumph am K2! Bilder: © Ralf Dujmovit/NationalGeografic u. M. Zhumayev-NationalGeografic
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Steckbrief
Gerlinde
Kaltenbrunner, geb. am 13. 12. 1970 in Kirchdorf/Krems
Beruf:
Dipl. Krankenschwester
Lieblings-Felstour:
Don Quixote in der Marmolada-Südwand
Lieblings-Eistour:
Presanella Nord
Lieblings-Skitour:
Großer Phyrgas
8000er-Gipfelbuch (von Martin Grabner):
1. Cho Oyu – 6.5. 1998
Nach dem Vorgipfel des Broad Peak (2. Juli 1994) war der „eher leichtere" Gipfel des sechsthöchsten Berges der Welt Gerlindes erster echter 8000er in ihrer Liste, den sie im Zuge einer großen Naturfreunde-Expedition bestieg.
2. Makalu – 14.5.2001
Sie erreicht den Gipfel des technisch sehr anspruchsvollen Berges alleine am Nachmittag. Ihr Erfolg wird aber vom Tod des Österreichers Erich Resch in Gipfelnähe überschattet. Gerlinde war die letzte, die ihn noch gesehen und zur Umkehr zu überreden versucht hatte.
3. Manaslu – 10.5.2002
Gemeinsam mit Sepp Hinding steht sie bereits um halb acht Uhr morgens auf dem Gipfel. Für Gerlinde hat der Manaslu aber deswegen eine ganz besondere Bedeutung, da sie im Basislager ihren heutigen Mann, Ralf Dujmovits, kennenlernt.
4. Nanga Parbat – 20.6.2003
Sie erreicht den Gipfel gegen Mittag alleine, 50 Jahre nach der Erstbesteigung durch Hermann Buhl. Für Gerlinde sind die Erlebnisse am Nanga Parbat besonders eindrucksvoll. Ein Achttausender zu dem sie auf jeden Fall wieder zurückkehren möchte.
5. Annapurna – 28.5.2004
Gerlindes erster Achttausender mit Ralf. Gemeinsam mit dem Japaner Hiro Takeuchi stehen sie auf dem Gipfel des statistisch gefährlichsten Himalaya-Riesen. Sie sagt später, dass sie viel Glück hatten und sie diesen Berg sicher nie mehr besteigen wird.
6. Gasherbrum I – 25.7.2004
Top akklimatisiert nutzt Gerlinde zwei Monate später ein kurzes Schönwetterfenster im Karakorum um den Gasherbrum I oder Hidden Peak in ihr Gipfelbuch einzutragen. Beim Abstieg entgeht sie nur knapp einer Katastrophe, als ein Spanier neben ihr abstürzt.
7. Shisha Pangma – 7.5.2005
Eine ganz besonders beeindruckende Leistung von Gerlinde, Ralf und Hiro an diesem an sich nicht allzu schweren Achttausender. Aufstieg über die Südwand und dann überschreiten die drei als allererste den Shisha Pangma nach Norden mit schwerem Gepäck am Rücken.
8. Gasherbrum II – 21.07.2005
Dieser Achttausender fordert Gerlinde durch enorm viel Neuschnee alles ab. Zuerst steigt sie allein auf, um sich später auf 7000 Metern mit einer Gruppe zusammenzuschließen. Sie erreicht schließlich mit zwei italienischen Bergsteigern den Gipfel am frühen Nachmittag.
9. Kangchendzönga – 14.5.2006
2003 waren Ralf und Gerlinde noch am "Kantsch" wetterbedingt gescheitert. Dieses Mal sollte es auf der Route der Erstbesteiger klappen. Der dritthöchste Berg der Welt zählt sicher auch zu den schwersten, vor allem im Bereich der Passagen von 8000 Metern bis zum Gipfel.
Am Gipfel des Kansch! Bilder: © Veikka Gustafsson
10. Broad Peak – 12.7.2007
Vor dreizehn Jahren war Gerlinde bereits auf dem Vorgipfel gewesen. Die Rückkehr war ein besonderes Erlebnis, die Änderungen an der Route und im Basislager zu beobachten und endlich auf dem Hauptgipfel zu stehen. Zusammen mit Ralf und David Göttler.
11. Dhaulagiri – 1.5.2008
2007 bei ihrem ersten Versuch kommt Gerlinde unter eine Lawine, überlebt wie durch ein Wunder. Zwei spanische Kollegen kommen allerdings ums Leben. Ein Jahr später erreicht sie mit David Göttler den Gipfel. Eine große Erleichterung für sie, dass es diesmal geklappt hat.
12. Lhotse – 20.5.2009
2006 und 2008 mussten Ralf und Gerlinde am Lhotse umdrehen. Diesmal gelingt das Unternehmen endlich und für Gerlinde ist es ein ganz besonderer Moment. Schließlich ist der Lhotse Ralfs 14. und letzter Achttausender und ihr großer Wunsch dabei zu sein, erfüllt sich.
13. Mount Everest – 24.5.2010
Die letzte Etappe zum Gipfel kämpft sie sich alleine hinauf, da Ehemann Ralf mit einer Verkühlung auf 8300 Metern im Zelt auf sie warten muss. Um 12. 30 Uhr erreicht sie den höchsten Punkt der Erde, wieder ein ganz besonders ergreifender Moment in ihrem Bergsteigerleben.
14. K2 – 23.8.2011
Sechs Mal war sie mit ihrem Mann am zweithöchsten und sicher schwersten Achttausender gescheitert. Bei dieser Expedition hatte sie von Anfang an ein gutes Gefühl. Die Verhältnisse waren extrem schwierig, es gab viel Schnee und Lawinengefahr. Aber es hat sich ausgezahlt: "Es war ein majestätischer Moment".
Die erfolgreiche Lebens-Seilschaft Gerlinde und Ralf am K2 © M. Zhumayev-National Geografic
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