Das Allgäu, die Allgäuer Alpen. Für vieles berühmt. Für die bodenständigen Menschen, für guten Käse und leckere Milch, für eine touristische Infrastruktur erster Klasse. Oberstdorf, Sonthofen, Bad Hindelang, Immenstadt, Oberstaufen – die Liste der bekannten Orte am Fuße der Berge ist lang. Und klar doch, dass das Allgäu eine einzigartig schöne Landschaft hat, in der man ausgezeichnet wandern und Skifahren kann, weiß die Schülerin in Hamburg, die Rentnerin im Ruhrgebiet genauso wie der Bankangestellte in Frankfurt. Wer gerne höher hinaus will im Urlaub, bekommt sehnsuchtvolle Augen, wenn er vom Heilbronner Weg, vom Jubiläumsweg, vom Hindelanger oder Mindelheimer Klettersteig hört!
Von Uli Auffermann, alle Bilder: Archiv Heckmair-Auffermann
Gut, das wäre die Kurzfassung, mit der man den Allgäuer Alpen aber noch lange nicht gerecht wird. Denn dieser ganz besondere Teil des Hochgebirges ist von einem unverwechselbaren Charisma. Mal schroff, mal steil, mal sanft geneigt, bisweilen bis zu den Gipfeln mit Gras bewachsen. Voller Schnee in den kalten Scharten und Winkeln, häufig bis in den Hochsommer hinein. Steige und Höhenzüge, die dauerhaft über der 2000-Meter-Grenze liegen! Pfade zwischen Himmel und Erde, durch grüne Almgebirge mit üppiger Flora, schwindelerregende Felsgrate hoch über tiefblauen oder türkisfarbenen Seen, in denen sich die Wolken spiegeln. Dunkle, dichte Nadelwälder ziehen hinauf, um sich in den geduckten Latschenfeldern oder den hellgrünen Alpweiden zu verlieren. Darüber bauen sich steile Felsgebilde auf, Riffen gleich werfen sie lange Schatten in die lieblichen Täler. Zerklüfteter Hauptdolomit im Wechsel mit plattigem, hellem Kalk. Hinter jeder Kante, hinter jeder Kuppe eine neue Perspektive. Glasklare Bäche, die sich mit großer Wucht aus den hohen Flanken ergießen. Rauschende Wasserfälle, gleißend im Licht der Sonne. Alles eine einzige landschaftliche Offenbarung. Voller Anmut und Wildheit, herausfordernd und faszinierend.
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Am Hindelanger Klettersteig
Bergsteigen vom Ursprung her
„In Bezug auf Sicherheit des Trittes und Schwindelfreiheit stellt das Allgäuer Gebirge an seine Bergsteiger größere Anforderungen als alle anderen Voralpen-Gruppen. Schlimmer als die Felsen sind die im Allgäuer Gebirge so häufig vorkommenden glatten, aber scharf geneigten Flächen der Bergabhänge, deren verlockendes grünes Kleid eine Besteigung als gänzlich gefahrlos erscheinen lässt!“, schrieb Hermann von Barth einst. Er musste es wissen. Am 1. Mai 1869 war er als Rechtspraktikant nach Sonthofen gekommen und begann die Erschließung der Allgäuer Alpen in einer Weise, die im gesamten Alpenbogen ihresgleichen sucht. In nur wenigen Monaten bestieg er 44 Gipfel, fertigte orographische Schilderungen und geologische Einordnungen in aller Ausführlichkeit an. Als erster Hochtourist im Allgäu wird er bezeichnet, und in der Tat, erst durch sein großes Interesse an der Region und sein publizistisches Wirken folgten ihm viele dorthin. Was sie vorfanden, war ein stilles, ein ursprüngliches Bergland. Erhebungen, weit über 2000 Meter hoch, eigenwillig geformt und oft abgelegen. Um auf ihnen zu stehen, musste man mehr sein als ein ausdauernder Wanderer. Die unabdingbaren Grundtugenden des Alpinismus waren gefragt, ja wurden geradezu in Vollendung eingefordert: Trittsicherheit, Schwindelfreiheit, Orientierungssinn und ganz, ganz viel Bergerfahrung. Schrofig, teils brüchig, steil und mitunter von atemberaubender Ausgesetztheit sind die Touren. Schlag auf Schlag stand Hermann von Barth auf den höchsten und markantesten Punkten, auf dem Großen Krottenkopf, der Trettach- und Marchspitze, Krottenspitzen und Öfnerspitze, der Wasserfallkarspitze und der Klimmspitze. Die beiden letzten gehören zur seinerzeit touristisch beinahe unberührten Hornbachkette, die es dem naturbegeisterten v. Barth besonders angetan hatte. Nahezu fünfzehn Kilometer misst diese als Seitenast des Allgäuer Hauptkammes, und wie aufgereiht kumulieren hier etliche Gipfel um die 2500 Meter. Die 2632 Meter hohe Urbeleskarspitze, aber auch ihre Nachbarn mit weniger bekannten Namen wie Schwellenspitze oder Noppenspitze geben der Hornbachkette ihren wilden rauen Charme. Wer heute jenseits der bekannten und gut besuchten Höhenwege und Klettersteige Ruhe und Einsamkeit sucht, dabei die vielen Stunden im Auge behält, die derlei Touren beanspruchen, auf das Wetter achtet, auf optimale Ausrüstung und sich nicht überschätzt, sollte sich auf Hermann von Barths Spuren begeben. Und wer dann sicher und souverän hinauf und hinunter kommt, hat sich vom einfachen Bergwandern abgenabelt, darf sich mit Fug und Recht "versierter Bergsteiger mit alpiner Erfahrung" nennen!
In den Allgäuern sind wir stets umgeben von Bergen, die unverwechselbar sind. Kommen wir ihnen nahe, passieren wir ihre Flanken, atmen wir mit jedem Schritt alpine Geschichte.
Berge von Format
Einerlei, ob wir uns als genießender Urlauber im Tal am Fuße des Hochgebirges aufhalten, ob wir in mittlerer Lage wandern, uns auf eine der zahlreichen Alpenvereinshütten begeben, als Gipfelstürmer hoch hinaus wollen, in den Allgäuern sind wir stets umgeben von Bergen, die unverwechselbar sind. Kommen wir ihnen nahe, passieren wir ihre Flanken, atmen wir mit jedem Schritt alpine Geschichte, blicken ehrfurchtsvoll auf Wände und Grate, an denen großzügige Routen eröffnet, extrem schwer geklettert wurde und sich klingende Namen der Bergsteigerelite ein Stelldichein gaben. Im Zeitalter von Bohrhaken und Plaisir-Routen führt so mancher einst begehrte Gipfel heute eher ein Schattendasein, ist so mancher Kletterweg beinahe in Vergessenheit geraten. Das war einmal ganz anders. Vor allem an der unbestrittenen Königin des Allgäus – der Höfats (siehe Bild rechts). Wie eine überdimensionale Kathedrale, ist das Erscheinungsbild dieses Berges einzigartig und das Wahrzeichen der Region schlechthin. Überaus steil, brüchig und bis zu den vielen Gipfeln mit Gras überzogen, verlangt sie förmlich danach, auf ihren messerscharfen Graten himmelwärts zu steigen. So mancher Draufgänger ließ einst das Leben im Versuch, eines der hier zahlreich wachsenden Edelweiße seiner Angebeteten im Tal zu überreichen. Die Bergwacht verhinderte den Raubbau, die Höfats zeigt sich blumenprächtig wie eh und je, und auch heutzutage wird dort ein Rettungsdienst organisiert, denn die Höfats darf nie unterschätzt werden, kann leicht aufgrund ihrer Steilheit und des grasigen Untergrundes zum Schlimmsten führen. Doch gut vorbereitet, vielleicht in der Obhut eines Bergführers, wird es noch heute jedem so ergehen wie zu Beginn des letzten Jahrhunderts wohl dem legendären Felskletterer Hans Dülfer, der lange vor seinen bedeutenden Erstbegehungen im Wilden Kaiser von der Erhabenheit der Höfats gefangen war.
Es sprach sich schnell herum, dass das Allgäu besonders intensive Eindrücke für den Alpinisten bereit hält. Von überall her kamen sie, um sich in der bisweilen so eigenwilligen Charakteristik der Allgäuer Gipfelwelt zu erproben. Selbst aus München machten sie sich auf, wo die Felsgeher mit dem Wetterstein und dem Wilden Kaiser doch so eisenfeste Anstiege in Hülle und Fülle vor ihrer Haustür vorfanden. Die Touren in den Allgäuern erfreuten sich in den 1920er und 1930er Jahren rasch allergrößter Beliebtheit. Trotz der oft langen Zu- und Abstiegswege, trotz manch brüchiger Stelle waren und sind die Kletterführen an alpinem Gesamterlebnis und landschaftlicher Schönheit kaum zu überbieten. Touren, die den kompletten Alpinisten fordern. Der über einen Kilometer lange und an die dreißig Seillängen messende Krottenspitzgrat (siehe Bild links), die ästhetisch elegante Kletterei am Rädlergrat hinauf zum Himmelhorn, die Kanten und Wände der Trettach, am Großen Widderstein, an den Höllhörnern, am Biberkopf. Gewaltig die imposante Nordostwand des formschönen Hochvogels, die sich so alpine Berühmtheiten wie Kuno Rainer und Martin Schließler zum Prüfstein nahmen. Oder der Extremklassiker des Allgäus schlechthin, die Schneck-Ostwand, eine klettersportliche Pioniertat von 1922, im legendären VI. Grad und mit einem Minimum an Haken erschlossen. Derart schwer, dass etliche Wiederholungsversuche scheiterten. Auch Anderl Heckmair, der die vierte Begehung mit Franz Schratt einheimste, sprach voller Hochachtung von der Wand.
Heute hat sich neben so mancher klassischen Route eine Sportkletterführe etabliert, mit Bohrhaken versehen und in festem Fels. Längst ist klar, man kann gut und schwer klettern in den Allgäuern, und besonders die Paradegebiete der Wolfebnerspitzen und der Tannheimer Berge genießen unter sportlich ambitionierten Felsgehern schon lange einen guten Ruf. Doch man muss kein extremer Bergsteiger sein, um das Herz dieser ganz besonderen Gebirgswelt in sich schlagen zu hören. Man muss nur, wie man im Allgäu sagt, „in d’Berg“ gehen, vorbei an kristallgleich leuchtenden Seen und von einem der Gipfel in eine wilde Flanke schauen, um den Zauber der Bergnatur mit allen Sinnen aufzunehmen.
Bild links: das Gaishorn; hoch über dem Vilsalpsee; Bild rechts: am Hindelanger Klettersteig |