Route
auf den Großen Geiger:
Essener
& Rostocker Hütte (2207m) - Stredacher Winkl - Maurerkees
- Großer Geiger (3360m)
GZ 7 Stunden im Aufstieg
5 Stunden im Abstieg
/ HM 1150 m






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Auf
um 5, Start
um 6 Uhr Westalpenzeit, um zumindest im Aufstieg noch halbwegs
festen Untergrund vorzufinden. Der Marsch von der Hütte in Richtung
Nordwesten zu einer Wegkreuzung (Abzweigung Simonyspitzen), über
den Maurerbach, wieder an einer Weggabelung (zum Türmljoch)
vorbei und weit, weit ins Tal des Stredacher Winkls hinein lässt
uns Zeit, in den Rhythmus zu kommen und uns geistig auf das Kommende
einzustimmen.
Schweigen und langsames Dahintrotten. Noch ahnt keiner, dass sich die
angeschriebenen 3,5 Stunden (!) zu einem Marathon von nahezu 12 Stunden
auswachsen würden.
In leichtem Rechtsbogen ins Moränengeröll, schließlich
die erste Berührung mit dem unter Kiesel und Geröll lauernden
Eis. Lästiges Bergauf-Rutschen. Unsere Blicke schweifen immer wieder
zu den Gletschern des Maurer-, Dorfer- und Simonykees
hinauf - nein, sie sehen heuer nicht gut aus. Grau, schmutzig und in
vielen Bächen ausrinnend, wie ungewaschene, staubbedeckte Laken
bedecken die Gletscher die obersten Etagen. Das ohrenbetäubende
Rauschen ringsum verrät das bedenkliche Siechtum des ewigen Eises.
Nach 2,5 Stunden haben wir den Gletscher erreicht. Steigeisen,
Gurte, Seil an, Marschordnung und auf geht's.
Harry
scheint zunächst etwas gelangweilt - eine leichte Gletscherwanderung,
Routine, nichts Besonderes..., was sich spätestens nach einer
Stunde ändern wird. Als wir vom Südfuß des Kleinen
Maurerkeeskopfes nach Osten schwenken, stehen wir plötzlich
vor einer gewaltigen Randkluft, nein Randschlucht!, wo
so sonst keine war. Harry wacht auf, ist er jetzt doch unvermutet mit
all seiner Erfahrung gefordert und steht er vor einem selten selektiven
Problem. Hier gibt es kein Weiterkommen. Er probiert's andersrum ...
nein auch über den Felsen Sackgasse. Endstation. Wir befinden uns
in einem bewegten Meer aus Rissen, Klüften und Abgründen.
Wohin man auch blickt, kein Weg, nur bis 40 Meter tiefe Abgründe,
Quer- und Längsrisse. Das muss das Ende der Unternehmung "Großer
Geiger" sein, denke ich mir, sehe keine Möglichkeit,
Hütte wir kommen! Irrtum.
Denn Harry ist ein Virtuose, ein Künstler, jemand der es versteht,
Gletscher zu lesen. Ja, den Gletscher zu lesen, wie ein Buch,
zu interpretieren, zwischen seine "Zeilen", sprich Schichten,
zu blicken und nach der richtigen Deutung zu handeln. Wie das funktioniert?
Einmal das Gesamtbild überblicken, die "Landkarte"
des Gletschers deuten, ins Detail gehend den Ausgangspunkt betrachten,
von allen Seiten prüfen, die Geheimnisse des Eises und Schnees
entdecken. Harry geht immer wieder voraus, begutachtet Brücken,
mustert, checkt sie von verschiedenen Seiten, stößt da und
dort die Spitze seines Pickels in den Firn, um Zwischenschichten zu
prüfen.

Wo
liegen die Schwachstellen des Eises, wo dessen Stärken? Was verraten
die Farben des Schnees? Was bedeuten seine feinen Schattierungen? Welche
Geheimnisse verbergen sich hinter, oder besser: unter dem Sichtbaren,
dem Vordergründigen? Wo liegen die versteckten Fallen, wo lässt
sich unser Gletscher überrumpeln? Dort eine Brücke, die halten
könnte, könnte! "Seil spannen!", lautet
dann Harrys forsches Kommando, und "Konzentration! ... Dass
mir niemand schläft!" Ein vorsichtiges Herantasten an
eine filigran aussehenden Brücke, ha, ertappt! - sie hält.
Stück für Stück, Schritt für Schritt erliest sich
Harry einen uns geheimen Weg durch das Spalten-Labyrinth, findet mit
Sicherheit die einzig mögliche Route - "Seil spannen!"
- ein Sprung - "Nicht schlafen!" - ein Teleskopschritt
über ein schwarzes Loch - wie sehr Susanne solche Turnübungen
liebt! Manchmal bleibt Harry nur eine Ahnung, dann sieht man auch ihm
die Anspannung an - "Quer zur Spalte sichern! Und passt's mir
jetzt ja auf!"
Selten habe ihn ein Gletscher so gefordert, gibt Harry anschließend
zu, Abgründe bis zu 40 Metern erinnern an West-Alpen-Dimensionen.
Die Selektivität des Großen Geiger habe in diesem Sommer
locker an die des Mont Blanc heran gereicht!
Wir
anderen, längst verstummt, konzentrieren uns auf's gespannte Seil
und den klumpenden Schnee an den Steigeisen - "Sch... Schnee
...!", liegt's Annelies auf den Lippen, aber aussprechen wird
sie's nie.
Am
felsigen Westausläufer des Geiger haben wir es geschafft, glauben
wir - lassen uns fallen, zu sehr fallen - ein Mädel rutscht in
die steile Südflanke - und weil Mädels schreien, wenn sie
fallen, stoppt es eine kollektive Pickelbremse. Männer schreien
nicht, wenn sie fallen, was es schwieriger macht, schnell zu reagieren.
Weil
der ansonsten leichte und zum Gipfel führende Firnhang unbewältigbar
ist, müssen wir über Blockwerk weitersteigen, mitunter klettern,
was unseren Bayern zur Weißglut treibt, schaffen seine Beine doch
partout jenen Spagat nicht, den sie gefälligst zu schaffen haben.
Sigis Flüche wecken uns aber endgültig aus der Anspannung
und treiben uns beherzt dem Gipfel zu, den wir um 13 Uhr, also nach
gut 7 Stunden erreichen.
Eine Stunde bleiben wir dort, aalen uns in der Sonne, tanken Energie
für den Abstieg. Bei niemandem will so richtig Euphorie aufkommen,
wissen wir doch, dass der einzige Weg nach Hause durch das grauweiße,
zerrissene Labyrinth unter uns führt.

Harry
hat Feuer gefangen. Nicht den gleichen Weg zurück, sondern eine
Überschreitung! Also noch eines draufgesetzt! Ja über
den Südgrat hinunter. Power, Leute, Power! Er steigt
voraus, prüft den Weg, passt! - und Marsch. Tatsächlich
verläuft der Abstiegsweg über den südöstlichen Ausläufer
des Geiger durch leichtes, manchmal etwas "bröseliges"
Schuttwerk.
Am Gletscher wieder "Seil spannen!", "Nicht
schlafen!", "Schnee von den Steigeisen schlagen!"
Das Spiel, an das wir uns mittlerweile gewöhnt haben, begeistert
uns mittlerweile, weil uns irgendwer mit Feuer angesteckt hat. In gewohnt
zielsicherer Manier liest sich Harry durch den Gletscher zurück.
Er, der auch Blinden und Behinderten das Klettern lehrt, also ein Sensorium
für die feinen Schwingungen des Eises, Felsens und Seilpartners
haben muss, kennt mittlerweile die Schwächen des Gletschers - und
seiner Kunden. Beinahe blind findet er durch die verschlungenen, von
der Sonne aufgeweichten, engen Gletschrgassen. Am Ende leuchten seine,
aber auch unsere Augen. Für manche war's der erste 3000er, für
die meisten Neuland, für uns alle eine Prüfung, die uns neue
Grenzen berühren ließ.
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