5.
Tag: Plaza
de Mulas - Nido de Cóndores, Lager 1 (5.559
m) - Plaza de Mulas
4-5
Stunden, etwa 1200 Hm
Bei
guter Witterung stellt die Orientierung auf dieser ersten Etappe kein
Problem dar, dafür sorgt schon allein die Zahl der Gipfelanwärter.
Vom Basislager führen ausgetretene Pfade im Zickzack den Hang
hoch. Östlich der Gipfelaufbau des Aconcagua, nördlich der stark
vergletscherte Cerro Cuerno mit seinen 5.462 m. Nach etwa 2 Stunden
erreicht man auf 4.910 m das Camp Canadá, das nur wenigen
Zelten Platz bietet und über kein Wasser verfügt. Es empfiehlt
sich, weitere 2 Stunden zum wesentlich größeren Camp Nido
Cóndores auf 5.559 m aufzusteigen.
Unweit
von Plaza Canadá
Im
Revier des Kondors - Nido de Cóndores
Zurück
zum Plaza de Mulas
Die
erste schwere Aufstiegsetappe unserer Expedition. 20 Kilo am Buckel -
der erste Teil der Ausrüstung für 6-7 Tage -, 2 Liter Tee und
jede Menge Motivation.
Langsam gehen, sehr langsam, beschwören wir einander und uns selbst.
Anders kommt man hier auch nicht weiter, die Luft ist hier noch etwas
dünner als auf vergleichbar hohen Bergen im Himalaja. An diesem Tag
gilt es vor allem, den richtigen Geh- und Atemrhythmus zu finden. Einen
Fuß vor den anderen, langsam, langsam, kein Schritt zu viel oder
zu schnell, schließlich steigen wir über Mont Blanc-Höhe
in Kilimanjaro-Sphären hoch - und da wird die Luft dünn, sehr
dünn.
Im Einklang mit der Schrittfrequenz die Atemfolge - gleichmäßig
durch Mund, Nase, manchmal wünscht man sich keuchend, auch durch
die Ohren atmen zu können. Und stehen bleiben, oft stehen bleiben
und trinken.
Der Weg über den Schotterhang ist nicht zu verfehlen, weite, ausgetretene
Serpentinen. Auch hier spürt man die "Massen" nicht, alles
verteilt sich, viele Einzelgänger. Außerdem ist jeder zu sehr
mit sich selbst beschäftigt, als dass es laut und ungemütlich
würde. Oft sitzen sie da, nach Luft ringend, weißgesichtig,
erschöpft, weil sie sich zuviel zugemutet haben. Wenig Frauen dabei
- der Aconcagua ein männlich besetzter Berg?
Plaza
Canadá, 5.043 m, ein paar an Felsen gedrückte Zelte. Wir
haben kaum Augen dafür, wollen nur weiter, hoch und wieder hinunter.
Die Anfangsstufe verflacht sich ein wenig, um sich dann vor Nido de
Cóndores wieder aufzusteilen. Robert läuft beinahe.
Was hat er vor? Kurt bleibt hingegen bedenklich weit zurück. Hat
er Schwierigkeiten oder ist er nur vernünftiger als wir? Bei Georg,
der hinter mir herschleicht, und mir nehmen Kraft und Motivation proportional
zur Höhe ab - und das rapide.
Camp Alaska, 5.371 m, wieder nur eine kleine Zeltsiedlung. Nach drei
Stunden Schlepperei in dieser Höhe will ich nicht mehr, möchte
alles schon an diesem ersten harten Tag hinschmeißen ... die Gruppe
zerstreut, der Wind kalt, das Lager noch weit entfernt. Aber ich kenne
diese Nullpunkte mittlerweile, da heißt es, den Autopiloten einzuschalten,
alles Denken, Fühlen, Planen abzustellen und den inneren Motor auf
die Automatik des Gehens zu schalten. Ein Schritt nach dem andern, Georg
hinter, dann vor mir, wir puschen uns gegenseitig hoch, nur so geht's,
bis Lager I erreicht ist: Nido de Cóndores, das Nest der
Kondore.
Schon
beim ersten Anblick dieses Lagers weiß ich: einer der schönsten
Camps, die ich bisher erlebt habe, eine riesige Terrasse, ein wahrer Adlerhorst
über einem Meer von Andengipfeln. Bizarre Felsnadeln auf der einen,
die breite Brust des Aconcagua auf der anderen Seite. Unendlich nah der
Gipfel und doch weit, weit weg. Meine an Ostalpen-Dimensionen gewöhnten
Augen wollen mir Nähe zum Gipfel vorgaukeln, Meter sind hier aber
Kilometer, Minuten Stunden. Vereinzelt Zelte, in Mulden, an Felsen gepresst,
mit Sturmmauern umgeben, das obligate Ranger-Zelt, ein paar kleine Eisfelder
- unser zukünftiges Wasserreservoir.
Mit bleichen Gesichtern und schwerem Atem bauen wir Olivers riesiges Zelt
auf. Nicht die Kondition, nicht die Ausrüstung oder die Höhenanpassung
sind die wichtigsten Prämissen für eine erfolgreiche Höhentour,
sondern die Zusammenarbeit. Es gibt nichts Schlimmeres, als ein Zelt in
dieser Höhe alleine aufstellen zu müssen. Letztlich könnte
selbst der heftigste Orkan Olivers Iglu nicht umwerfen, so sehr vertäuen
wir es mit Schnüren und Seilen. Unmerklich dürften wir dabei
auch uns selbst miteinander verknotet haben, sind wir doch in diesen Tagen
viel fester zusammengewachsen, als es notwendig gewesen wäre. Nachdem
wir unsere Trosssäcke im Zelt verstaut haben, geht es wieder abwärts
- im Laufschritt, verführen doch wahre Abfahrtspisten durch Geröll
und Sand zum rasanten Abwärtsgleiten.
6.
Tag: Ruhetag im Basislager
Bei
windigem (wie sollte es anders sein!), aber wolkenlosem Wetter ruhen wir
uns aus, packen, testen GPS-Geräte, Zelte und Höhenmesser. Als
sich nach dem Mittagessen bei fast allen Verdacht auf Durchfall äußert,
geht kurz Unruhe durch die Gruppe. Fehlalarm - es waren bloß die
Linsen. Wann sonst als bei so einer Tour lernt man es, auf die inneren
und äußeren Signale zu hören und sie zu deuten? Die "Ruhe"
gilt nur dem Körper, nicht dem Verstand. Bei manchen kommen die ersten
Bedenken auf, eine Art Torschlusspanik sozusagen. Wie kommt man mit der
Kälte zurecht, wie mit dem Kopfweh, dem Sturm?
Oder: Ich habe Kinder, mir darf nichts passieren, werde also nichts übertreiben,
kein unnötiges Risiko eingehen. Was, wenn mir die Zehen, die Finger
abfrieren, wenn das Zelt abhebt im Sturm oder wir die Orientierung verlieren?
Andere träumen sich gar schon auf den Gipfel und reden davon, was
sie dort zelebrieren würden - jene Gipfelzigarette entzünden
zum Beispiel, die die Arbeitskollegin geküsst hat, oder eine Fahne
hissen mit dem Namen der Firma oder die leckere Salami anschneiden, die
Gipfelsalami sozusagen. So rotiert es in den Köpfen vor dem endgültigen
Aufbruch ins Dachgeschoss des Aconcagua.
7.
Tag: Plaza
de Mulas - Nido de Cóndores, Lager 1 (5.559
m)
Gut
akklimatisierte Bergsteiger können von Nido de Cóndores
aus direkt auf den Gipfel steigen. Der Vorteil liegt natürlich
darin, keine kräfteraubenden Nächte im Höhenlager verbringen
und keine Ausrüstung weiter hochschleppen zu müssen. Andererseits
ist es nicht jedermanns Sache, an einem extrem langen Tag 1.600 Höhenmeter
(!!) in dieser ohnehin gewaltigen Höhe zurückzulegen.
Der
Aconcagua reizlos?
Darin täuscht man sich immer: Dass der Rucksack beim zweiten Gepäcktransport
leicher würde als beim ersten Aufstieg zu Lager 1. Das Gegenteil
ist der Fall: Aus Angst zu verhungern oder zu erfrieren, stopft man
noch hinein, was das Zeug hält. Die 1.200 Höhenmeter zum Nest
der Kondore sind diesmal leichter überwunden, so leicht sogar,
dass Robert und ich davon phantasieren am übernächsten Morgen
bereits vom Nido direkt gen Gipfel zu starten. Ha, da lachen
ja die Schneebären!
Zuerst das Zelt aufgebaut, Schnee vom nahen Eisbruch besorgt (Pickel
oder Metallschaufel!) und fein gekocht. Diesen Abend am Nido
werden wir wohl nicht so schnell vergessen. In trauter Gemeinsamkeit
sitzen wir zufrieden vor den Zelten, lassen den Abend kommen - und die
Zeit der Farben.
Bis
hierher haben wir es also geschafft, ohne größere Probleme,
hierher haben wir uns auch zu Hause geträumt, weiter nicht. Wer
sich höher träumt, ist tiefer enttäuscht, sollte er scheitern.
Fulminant
das Finale dieses Tages. In grelles, glühendes Orange getaucht
zuerst die NW-Wand unseres Berges.
In
dem Moment, als die Wand verglüht, entzündet sich der Horizont,
zuerst gelb, dann ockerfarben, schließlich in den Farben des Feuers.
Wir harren trotz der Kälte aus, selbst Oliver verstummt angesichts
des Schönheit dieser Augenblicke. In einigen kleinen Eistümpeln
spiegelt sich das Schauspiel, Schnee-Stalagmiten scheinen wie glühende
Lava zu fließen. Schließlich das Finale Grande: alle Farben
zusammen, der ganze Himmel für einige Augenblicke ein glühendes
Farbenmeer, bis er plötzlich verlischt und vergeht.
Der Aconcagua reizlos? Nein. Im Gegenteil: Wer Augen hat, der schaue
... Gerade die Leichtigkeit dieses Berges gibt ausreichend Möglichkeit
zu genießen.
8.
Tag: Nido
de Cóndores, Lager 1
...
Das strenge Gesicht des Aconcagua
Foto: Harald Santer
Die Gruppe reißt an diesem Morgen erstmals auseinander. Kurt,
Egon und Harald steigen auf zu Berlin, um von dort
am kommenden Morgen den Gipfel zu versuchen, der Rest bleibt, will die
1600 Höhenmeter von hier bis on top wagen.
Der
bislang gutmütige Berg wird uns für diese Vermessenheit strafen.
Als ich am Nachmittag gleichsam zum Aufwärmen die 400 Höhenmeter
hoch zu Refugio Berlin steige und zurückkehre, nähert
sich eine schwarze Front und wächst sich genau über uns zu
einem furiosen Hagelgewitter aus, das in heftiges Schneetreiben übergeht
und bis zum nächsten Morgen anhält.
Wir
sitzen fest.
9.
Tag: Nido
de Cóndores, Lager 1
Bis zu einem halben Meter Schnee von hier bis in die Canaleta. Der Gipfelgang
abgeblasen, die sich erst am Vormittag aus der Wolkendecke schälende
Sonne lacht sich ins Fäustchen: Habt ihr euch gedacht, was? Die
"Berliner" kehren erschöpft und enttäuscht zurück, Georg und Egon werden ganz absteigen. "Lawinengefahr
in der Canaleta", "2 Tage Sturmtief", "2
Tote am Polengletscher", lauten die Hiobsbotschaften, die uns
auf den Boden der Realität zurückholen. Wir haben den anderen,
den bösartigen Charakterzug des Aconcagua zu spüren bekommen,
als Warnung sozusagen: Werdet mir ja nicht arrogant, das vertrage ich
nicht! Wie wahr! Wer sich nicht nach seinen Regeln, seinem Rhythmus richtet, läuft geradewegs in eine Katastrophe. Bei den
zwei Toten handelt es sich um jene Deutschen, die wir im Permit-Büro
von Mendoza noch getroffen haben. Halbnackt hat man sie auf dem Polen-Gletscher gefunden. Warum halbnackt? Man vermutet einen Zusammenhang mit den Symptomen
des Erfrierens. Steht man kurz vor dem Kältetod, glaubt man zu
schwitzen und entledigt sich der Kleidung ...
Wir
haben also das markanteste Wesensmerkmal des Aconcagua kennen gelernt:
Dass er nämlich blitzschnell sein Benehmen ändern kann - von
gutmütig, nett, einladend zu wutschnaubend, böse, kalt. Vor
allem seine Kälte hat bisher 80 % aller Gipfelanwärter in
die Knie gezwungen.
Junge Kondore
kreisen über dem Lager, sind auf der Jagd nach Mäusen, die
um unsere Zelte huschen. Wundern sich wohl über die bunten Vögel
dort unten, die ihnen Sommer für Sommer das Revier streitig machen.